Autor Thema: Stern von Stalingrad  (Gelesen 2184 mal)

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Offline md11

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Stern von Stalingrad
« am: Mi, 10. Oktober 2007, 22:15 »
Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit Zehn Jahre nach der mörderischen Schlacht und sieben Jahre nach Kriegsende befanden sich allein im Hauptlager Stalingrad dort noch immer 1 248 Plennys - Kriegsgefangene, Überlebende der Schlacht. Andere hatte man vom nördlichen Eismeer aus Workuta und Nishny Kolomsk, aus der Tundra, dem Ural, den Weiten Sibiriens, von Astrachan und vielen anderen Lagern des Gulags hierher gebracht. Sie sollten Stalins Jahrhundertbau, den Großbau des Wolga-Don-Kanals, zusammen mit anderen Zwangsarbeitern - und nicht etwa wie propagiert mit „Komsomolzen und kommunistischen Neuerern" - fertig stellen.

Ohne Hoffnung auf Heimkehr war unser höchstes Fest, die Weihnacht, ein besonders schwerer Tag für die Gefangenen. Die Pastoren wollten die Weihnacht durch eine Andacht für alle im so genannten Speisesaal begehen. Aber der Plan wurde schnell dem sowjetischen Politoffizier Klukin bekannt, der uns mit markigen Worten erklärte, dass es keinen Jesus und keinen Gott gebe, dass all das eine kapitalistische Provokation und somit verboten sei. Damit war unsere schöne Planung dahin. Die Dolmetscherin, Fräulein Weinstein, der eine deutsche Weihnacht nicht fremd war, übersetzte wortwörtlich. Sie bemerkte dazu, dass es unklug wäre, auch heimlich kleine Weihnachtsfeiern in den Erdbunkern abzuhalten. Schließlich würde man das doch erfahren und streng bestrafen.

Schon lange Zeit vor Weihnachten hatte unser Küchenchef Franz Jäger in verbotenem Tauschhandel Mehl gehortet und von den Invaliden zwei mächtige Schweine mästen lassen. Das wurde geduldet, weil ein drittes Schwein, das dem sowjetischen Lagerkommandanten gehörte, mit dem gleichen Schweinefraß, der Kapustasuppe, gemästet wurde, die von den Gefangenen kaum mehr genossen wurde. Diese erhielten seit einem Jahr unzählige „Fress"-Pakete aus der Heimat, deren Inhalt sehr viel kalorienreicher war. Der Küchenchef ließ also nicht nur zwei fette Schweine schlachten, sondern stellte für die beabsichtigte Weihnachtsfeier, die von der Kulturgruppe ohne Krippe, Gott und Kreuz ausgestaltet werden sollte, ein besonderes Festmenü zusammen. Es gipfelte in einem Stück Schweinebraten mit zwei Klößen pro Mann. Zum Dessert sollte ein grüner Wackel-Pudding gereicht werden. Der erfinderische Plenny und Lagerelektriker Heinz Bode hatte eigens eine Kartoffelstärkemaschine gebaut, die selbst aus Kartoffelschalen noch Stärke ,gewinnen konnte. Sinnigerweise erhielt dieser grüne Wackelpudding den geflügelten Namen „Donauwaldlauf".

Betroffen ob des Verbots, eine Weihnachtsfeier im christlichen Sinne zu gestalten, schlich der Leiter der deutschen Kulturgruppe, Hein Mayer, dem Politoffizier hinterher. Er- hielt ein Musikprogramm in der Hand, welches er ohnehin zur Genehmigung einreichen musste, Ob man nicht doch wenigstens eine kleine Dekorazia im Speisesaal machen dürfe, zur großen Oktoberrevolution würde doch in der Stadt auch immer alles geschmückt. „Kakoi Dekorazia, was für eine Dekoration ? “, knurrte der Politoffizier. „Girlanden aus buntem Papier an die Bühne und auf die Tische des Speisesaals einige Kerzen", antwortete der Kulturgruppenleiter, „Dekorazia moschno, Dekoration möglich, Kerzen verboten, keine Kirche, kein Pope!" brummte er und ging.

In der nachfolgenden Besprechung der Kulturgruppe hieß es gleich, „Dekorazia moschno", daraus ist was zu Machen, wenn wir es nur schlau genug anstellen. Benno von Arent, der ehemalige Reichsbühnenbildner, sagte, wenn die Pastoren keine Andacht halten dürften, dann müsse unsere Dekorazia stellvertretend ein Gefühl vermitteln, das ebenso in die Herzen dringte wie eine feierliche .Andacht. Und so entstand nach seinem Entwurf heimlich hinter dem Vorhang unserer Bühne auf großem Bühnenprospekt aus „organisierter" Dachpappe, Ölpapier, hinterbauten Glühbirnen und Scherenschnitten ein imposantes Nachtbild. Es zeigte ein heimatlich deutsches und verschneites Städtchens zur Christmette mir der beherrschenden Kirche im Mittelpunkt, über der der Stern zu Bethlehem in Kreuzesform strahlte.

Hinter der Bühne intonierten zu Beginn der Weihnachtsfeier die Streicher des Orchesters deutsche Weihnachtslieder. Die Laiendarsteller der Kulturgruppe servierten in Kostümen der vergangenen Aufführungen den von der Arbeit kommenden Gefangenen ein einmalig köstliches Essen. Vielen standen Tränen in den Augen, denn für viele war es schon die 13. Weihnacht fern der Heimat, fern der Familien. Nach dem Essen gab es noch eine "Tasse Kaffee und eine „Studentenschnitte", ein gesüßtes Konglomerat aus altem Brot mit Streifen einer künstlichen Sahne aus Kartoffelstärke und „Affenfett", wie das talg-ähnliche Hartfett genannt wurde. Dieses Rezept hat Franz Jäger bis zu seinem Tode nicht verraten. Es heißt, beim Stichwort „Studentenschnitte" läuft noch heute manchem Altgefangenen das Wasser im Mund zusammen.

Als am nächsten Tag der Politoffizier Klukin das Bühnenbild mit der Weinstein inspizierte, meinte er anerkennend: „Wort otschin karascho, na bitte, sehr schön, nur der Stern oben im Bild, dem fehlt ein Zacken, unser Stern hat immer fünf!" Wir Umstehenden mussten uns das Lachen verbeißen. Der Politoffizier harte noch nicht einmal bemerkt, dass unser Stern nicht nur vier Zacken hatte, sondern dass dieser wie ein christliches Zeichen, mit verlängertem unteren Strahl, wie das Kreuzeszeichen über dem deutschen Städtchen schwebte.

Die Weinstein hatte es gemerkt, sie lächelte bedeutsam - und schwieg. So konnten wir diese „Dekorazia" bis zum Jahreswechsel erhalten. Nach der Arbeit kamen nicht nur die Gefangenen immer wieder und beschauten andächtig das Bild. Sie erlebten die ihm innewohnende Kraft viele betend im Stillen. Und auch die Russen und deren Angehörige aus der Verwaltung kamen und staunten, wie aus dem kümmerlichen Dasein der Gefangenen ein solch eindrucksvolles Kunstwerk entstehen konnte.

Quelle-Weinachtsgeschichten aus schwerer Zeit (Bericht vom H.Mayer)

mfg
Josef
« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 17:42 von Adjutant »

Offline adrian

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Re: Stern von Stalingrad
« Antwort #1 am: Do, 11. Oktober 2007, 20:00 »
Hallo Josef,

das ist es, was es wert ist, aufgeschrieben und veröffentlicht zu werden.
Hab Dank hierfür. Da gibt es sicherlich noch mehr, was hier hineinpassen könnte.

Gruß Werner
Suche alles zur 60. Inf.Div. (mot.) (Danziger Division) bis Stalingrad

 


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