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Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft

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Todesmärsche und Sammellager

Die erste Nacht in Gefangenschaft bringt er mit vielen Leidensgenossen in einem Pferdebunker zu. Am Morgen erfährt er, daß die 6. Armee sich den Sowjets ergeben hat. Die Kolonne zieht weiter. Es bleiben Tote zurück, er zählt sie von nun an nicht mehr. Was in der Folgezeit für ihn und all die anderen beginnt, gehört zum Schrecklichsten, was Menschen in diesem Jahrhundert ertragen mußten: der »Todesmarsch« der Stalingrad-Gefangenen in die Sammellager und die Wochen in den dort behelfsmäßig errichteten Unterkünften. Probst hat selbst über diese furchtbaren Tage seines Lebens ohne Larmoyanz, ohne Anklage, distanziert, ganz im Stile des wichtigen Zeitzeugen berichtet: »Unser Weg führte durch den hohen Schnee am Straßenrand, denn die Straße mit ihrer festgetretenen und festgefahrenen Schneespur wurde ausschließlich von den zur Front zurückfahrenden Autos, Schlitten und marschierenden Kampfeinheiten der Russen benutzt. Für uns war deshalb der Marsch besonders beschwerlich. Unsere Kräfte waren schnell verbraucht. Die große Kälte gab uns den Rest. Immer wieder passierte es, daß vorbeiziehende Russen Kameraden von uns aus der Kolonne zogen, auf die Erde in den Schnee warfen und sie nach brauchbaren Bekleidungsstücken und Wertgegenständen untersuchten. Viele überlebten diese Untersuchungen nicht. Vor mir wurde einer aus der Reihe gezogen, den man in aller Eile zwang, seine Handschuhe und Lederstiefel auszuziehen und nur mit Socken an den Füßen weiterzumarschieren. Es bestand keine Gelegenheit, ihm zu helfen. Die Wachposten trieben uns dauernd zum schnelleren Marsch durch den hohen Schnee an. Wer zurückblieb, wurde von den am Schluß eingesetzten russischen Soldaten erbarmungslos erschossen. Wir hörten immer wieder Rufe und Schreie und die darauf folgenden Schüsse. Keiner von uns drehte sich um oder sagte ein Wort dazu.« - Auf diesem Marsch hatten alle nur den einen Gedanken: »Nicht zurückbleiben! «

Probst erlebte auf diesem Weg eine Situation, die in ihrer existentiellen Eindeutigkeit der Situation bei seiner Gefangennahme gleichkommt: »Ein russischer Soldat zerrte mich aus der Kolonne, warf mich in den Schnee und durchsuchte mich. Als er nichts fand und feststellte, daß ich nur einen Lederstiefel und am anderen Fuß einen russischen Filzstiefel trug, ließ er mich schimpfend liegen. Nur mit größter Mühe gelang es mir noch, das Ende unserer Marschkolonne zu erreichen.«

Nach einer Ruhepause schläft er im Schnee fest ein. Deshalb hört er das Kornmando zum Weitermarschieren nicht. Zwei Landser seines ehemaligen Zuges rütteln ihn wach. Er bittet sie, ihn im Schnee zurückzulassen. Sie schleppen ihn trotzdem mit sich. Aus Rücksicht auf ihre schwindende Kraft beginnt er wieder, seine eingefrorenen Gelenke zu bewegen. - »Den beiden Kameraden verdanke ich mein Leben.«

Die Gruppe erreicht im Morgengrauen das Sammellager Dubovka. Als es dort 'am Abend die erste Verpflegung - Hartbrot - gibt, setzt ein fürchterlicher Kampf um die Nahrung ein. Vielleicht als Folge dieses Kampfes, vielleicht infolge ihrer Erschöpfung brechen einzelne zusammen und bleiben am Boden liegen. Die Stubenkameraden plündern sie aus. Wenn sie keine Lebenszeichen mehr erkennen können, schaffen sie sie kurzerhand nach draußen vor die Tür in den Schnee. Ein paar Tage später wird Probst von einem sowjetischen Offizier zum Stubenältesten über ca. 80 Männer ernannt. Sie sind nun für einige Wochen in einer Villa aus der Zarenzeit untergebracht. Der Tod wird dort zu einem Problem der »Entsorgung«. Täglich muß er zehn und mehr 'rote nach draußen schleifen und im Schnee stapeln. Er sorgt dafür, daß das stets unverzüglich geschieht: Damit »wir noch Lebenden mehr Platz zum Ausruhen und Ausstrecken bekamen«. -Dennoch werden es in seinem Zimmer nicht weniger Leute. Bald kommt er hinter das »Geheimnis« der konstanten Zahl. - Sein Raum Iiegt zu ebener Erde. Wer zum Austreten und Wasserholen nach draußen will, muß dort vorbei. Viele verläßt danach die Kraft für den Rückweg. Sie legen sich in »seinen« Raum.

Das massenhafte alltägliche Sterben ist eher ein Hinüberdösen. Es gibt in diesen Tagen keinen Todeskampf. Probst findet schließlich nur noch dann Helfer für das Hinausschleppen einer Leiche, wenn er als Arbeitslohn die Tagesration Brot des Gestorbenen verspricht. - Im stillen rechnete sich jeder aus, wann er selbst an der Reihe war. «

Probst berichtet von mehreren willkürlichen Gefangenentötungen durch sowjetische Soldaten im Lager Dubovka. Einmal gehen einem Wachposten »die Nerven durch«, ein andermal werden einzelne der körperlich geschwächten Gefangenen bei Arbeitskommandos niedergestreckt. Als es einem Posten, der das Wasserholen an einer Quelle zu regeln hat, zu langsam geht, handelt er impulsiv: »Vor unseren Augen geht er dicht an den sich bückenden Wasserholer heran und tötet ihn mit mehreren Schüssen. «


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Dubovka war eines der Sammellager für die Stalingrad-Gefangenen. Diese Aufbewahrungsorte erwiesen sich in den Wochen nach der Kapitulation der 6. Armee als regelrechte Sterbelager. Was Probst niedergeschrieben hat, haben alle in diesen Stätten des Todes erlebt. Nach kompetenter Schätzung sollen von den 90000 Stalingrad-Gefangenen nur 18000 die für sie bestimmten Dauerlager erreicht haben. Im größten der Sammellager, in Beketovka, wo zunächst 50000 bis 60000 Gefangene untergebracht waren, sollen 42000 an Seuchen und Hunger gestorben sein. Viele von denen, die diese behelfsmäßigen Lager überlebt haben, starben auf dem langen Transport in die Dauerlager. Die wochenlangen Transporte nach Usbekistan haben bis zu .35'% der Männer nicht überlebt.

In verschiedenen Lagern haben die deutschen Kriegsgefangenen menschliche Leichenteile verzehrt. Der »Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte« sind acht Fälle mitgeteilt worden, davon sechs unter den Stalingrad-Gefangenen. Es ist wegen der fast unüberschreitbaren Schamgrenze bei diesem Tabu zu vermuten, daß diese Zahlen zu gering angegeben sind. Es sind nur Fälle mitgeteilt worden, wo der »Kannibalismus« nicht zu übersehen war, etwa wenn frische Schnittstellen an Leichen sichtbar waren. Untersuchungen darüber hat es weder von sowjetischer Seite noch von seiten der Mitgefangenen gegeben. Aussagen über eine Selbstbetciligung liegen nicht vor. Aus Dubovka, wo Probst untergebracht war, werden mehrere Fälle berichtet, die sich genau in den Wochen zugetragen haben, aus denen die hier abgedruckten Passagen Zeugnis ablegen.

Ich will hier zunächst mit der Wiedergabe der Selbstaussagen einhalten und versuchen, einen Kommentar zu geben. Hier werden Geschehnisse dargestellt, die sich einem Verstehen aus der gesicherten Alltäglichkeit unseres heutigen Daseins weitgehend entziehen. Zunächst ist deshalb festzuhalten, da 4 die Wahrheit von Erinnerungen, wie sie Herr Probst aufgeschrieben hat, außer Zweifel steht. Für das Geschehen gibt es ein dichtes Mosaik von Belegen.

Wenn die Gefangenen über diese erste Phase ihrer Leidenszeit berichten, dann entsteht der Eindruck, hier habe eine völlig anarchische, allein von Willkür beherrschte Situation bestanden. Das Lebcnlassen eines deutschen Gefangenen erscheint als eine Gnade und seine Tötung als eine offiziell geduldete Handlung. Dr. Walter »weiß«, daß der junge Russe ihn leben lassen wird, er entnimmt es seinem freundlichen Gesichtsausdruck. Josef Probst hat selbst das Glück, ein »Wunder« am eigenen Leib erfahren zu haben. Viele der anderen werden kurzerhand und ohne eine GefühlsäuP~erung am Wegrand ausgelöscht, andere aus Wut, vielleicht, weil ihr Gesicht gerade einen sowjetischen Wachposten »stört«.

Bei diesen »impulsiven« Handlungen sollte man die Vorgeschichte bedenken, den mit äußerster Härte geführten Krieg der Weltanschauungen, die von beiden Seiten ins Maßlose gesteigerte Haßpropaganda, welche den Feind seiner menschlichen Eigenschaft entkleidet, ihn allein als »Untermenschen«, »Faschisten«, »Kommunisten«-als eine Maske-sehen gelehrt hatte. Für die Situation der Gefangennahme kommt hinzu, daß das unverzügliche Töten von Feinden in diesem Frontabschnitt, wo es immer wieder zu einem direkten Kampf Mann gegen Mann gekommen war, von den Soldaten beider Seiten habitualisiert war. Deshalb verlangte die Situation meist unvorbereitet ein Unterdrücken der eigenen Aggression und einen auf den Moment der Konfrontation reduzierten Verzicht ruf Rache. Elementare Bedürfnisse und Triebe waren eine Zeitlang zum Vorteil der eigenen Seite ausgelebt und in den Dienst des Krieges gestellt worden. Jetzt sollten die eingespielten Reaktionsabläufe und Gefühle vom einzelnen zurückgenommen - beherrscht - werden. Zu einer Zivilisationsleistung dieses Niveaus sind überall in der Weit sehr viele Menschen nicht in der Lage. - Schließlich hatte wohl jeder, der damals in Stalingrad war, einen Kameraden, einen Freund oder Vorgesetzten unter Qualen sterben sehen. Neben der Angst und dem Mitleid haben viele Flaß Lind Rachegefühle empfunden. -In den Kriegen und militärischen Exzessen nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht anders, auch da ist es immer wieder auf allen möglichen Seiten aus Hag und Rache zu Gefangenentötungen und zum Mord an Zivilisten gekommen.

Die lebensgeschichtliche Erinnerung argumentiert stets von der subjektiven Erfahrung aus. Deshalb ist »Gerechtigkeit« nur schwer zu erreichen. Zudem: Die Wahrnehmung eines Beteiligten an einem Massenphänomen ist eng begrenzt. »Konzepte«, etwa strategischer Natur, können vom einzelnen durch Beobachtung kaum überschaut werden. Er sieht immer nur einen Ausschnitt aus dem komplexen Geschehen. Das gilt für die »Schlachten« des Krieges und genauso für das Massenschicksal einer Gefangenschaft. Nicht zuletzt aus diesem Grunde werden nur selten von den Heimkehrern Schicksalsvergleiche  gezogen zwischen dem eigenen Leid und dem Leid, das den sowjetischen Gefangenen von deutscher Seite zugefügt wurde. Dort hatte es den »Kommissarbefehl« gegeben, der die unverzügliche Tötung der politischen Offiziere vorschrieb. Er ist zwar meistens von Sonderkommandos der SS, aber eben immer wieder auch von Angehörigen der deutschen Wehrmacht vollstreckt worden. '' Von diesem Befehl und von der Exekution sowjetischer Gefangener durch Deutsche haben wir bei den Befragungen in unseren Forschungsprojekten nur äußerst selten, meistens in verbrämenden Andeutungen etwas gehört. Die deutschen Frontsoldaten hatten sowjetische Gefangene für gewöhnlich nur kurze Zeit vor ihrem Transport in die Lager gesehen, wo sich deren fürchterliches Massenschicksal dann vollzog.

Die Gefangenen- und Todeszahlen sprechen eine deutliche Sprache, bei der die deutsche Seite schlecht davonkommt. Von den etwa 3,2 Millionen Wehrmacht  Soldaten, die in die sowjetische Gefangenschaft geraten sind, sind 1,1 Millionen gestorben. Von den 5,7 Millionen Gefangenen der Roten Armee sind 3,3 Millionen ums Leben gekommen. Ihr Tod war vielfach Teil einer systematisch betriebenen nationalsozialistischen Ausrottungspolitik.

Eine erklärte Tötungsabsicht von seiten der sowjetischen Armee gegenüber ihren deutschen Gefangenen läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht belegen. Ob die tagelangen Todesmärsche der Stalingrad-Gefangenen in die Sammellager, Märsche, die oft »ziellos« im Kreise herumführten, die dabei geschehenen Massentötungen vor allem derer, die am Wege liegenblieben, im Einzelfall den Charakter des geplanten »Vernichtungsmarsches« hatten, wird sich möglicherweise erforschen lassen, wenn die Archive in Rußland noch weiter geöffnet und durchgearbeitet werden. Von seiten deutscher Ärzte ist zugunsten der Roten Armee angeführt worden, daß das Herumführen der Gefangenen mehr Leute vor dem Erfrierungstod gerettet habe als die einzige realistische Alternative: das Lagern in Schnee und Kälte. Hier ist die für den Winter ungeeignete Ausstattung der deutschen Armee mit Kleidung und Schuhwerk in Betracht zu ziehen, aber auch die Resignation in der geschlagenen Truppe. Im Gelände um Stalingrad mußten die Vorbereitungen auf die zu erwartenden Gefangenenmassen von seiten der Roten Armee sehr unzureichend sein. Geeignete Aufbewahrungsorte für Gefangene waren in den Kriegshandlungen nicht erhalten geblieben. Das gesamte Kampfgebiet war ein Trümmerfeld. So bestand keine Möglichkeit, den Gefangenen ein Dach über dem Kopf zu beschaffen.

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Lagerleben

Wer die erste Phase der Gefangenschaft, wer die Märsche durch die Winterlandschaft, die Wochen im Sammellager und den Transport in ein ausgebautes Kriegsgefangenenlager überstanden hatte, der hatte eine nennenswerte Chance, die Gefangenschaft zu überleben. Aus dem Chaos und der Willkür, der Zeit der »Wunder« und des dumpf ertragenen Schicksals war er in eine Welt gelangt, in der nach und nach die eigene Initiative und das Zusammenwirken mit anderen Menschen über sein Geschick mitentscheiden konnten. Nach einigen Monaten kristallisierte sich überall in den Lagern eine »Lagerkultur«, ein Kanon von Regelungen des Zusammenlebens, heraus, der - mit der nötigen Vorsicht gesagt - Elemente des Alltags enthielt, wie er außerhalb der Lager unser Leben prägt.

Dabei gab es von Lager zu Lager erhebliche Unterschiede in der Ausstattung und Ernährung. Vor allem: die Lebensbedingungen der Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaftssoldaten waren von der Gewahrsamsmacht unterschiedlich geregelt. - Es gab Generalslager und Lager für Stabsoffiziere; Unteroffiziere und Mannschaften blieben zusammen; Subalternoffiziere (Hauptleute und Leutnante) waren entweder in gemischten Lagern mit Unteroffizieren und einfachen Soldaten oder wiederum in speziellen Lagern untergebracht. in Anlehnung an die Genfer Konvention, die die Sowjetunion nicht offiziell anerkannt hatte, sollten Offiziere nicht zur Arbeit verpflichtet werden. Für Unteroffiziere und Mannschaften bestand Arbeitspflicht. Sie mußten Arbeiten zur Versorgung ihrer Mitgefangenen (Küche, Bäckerei etc.) oder Tätigkeiten außerhalb der unmittelbaren Lagerzone verrichten, etwa Waldarbeiten, Arbeiten in der Landwirtschaft oder in Bergwerken. Die deutschen Gefangenen waren es von der Wehrmacht her gewöhnt, daß Offiziere Und Landser grundsätzlich die gleiche Verpflegung erhielten. Nun waren sie erstaunt, ausgerechnet in der »klassenlosen Gesellschaft« der Sowjetunion solch fein abgestimmte Differenzierungen der Ernährung und Unterbringung vorzufinden. Tatsächlich gab es auch in der Roten Armee zwischen Offizieren der verschiedenen Grade, Unteroffizieren und Mannschaften jeweils unterschiedliche Ernährungsklassen. Sie wurden dort funktional erklärt. - Wer mehr Verantwortung zu tragen habe, verdiene eine bessere Kost.

Vermutlich haben es Ärzte in den Gefangenenlagern am günstigsten getroffen. Sie hatten bald Gelegenheit, zusammen mit sowjetischem Personal in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten. Sie durften also eine sinnvolle Fätigkeit im Dienste der eigenen Kameraden ausüben. Auch in bezug auf ihre Verpflegung und Unterbringung nahmen sie überall in den Lagern eine Sonderstellung ein.

Als Dr. Walter Ende 1943 in das etwa 280 km von Stalingrad entfernte Lager Vol'sk in ein Hospital für Kriegsgefangene überstellt wird, da weiß er vom ersten Tage an, daß nun eine bessere Zeit für ihn gekommen ist: »Die Russen hatten dort eine Kadettenanstalt in ein Spezialhospital für Kriegsgefangene umfunktioniert. Und als ich da hineinkam, da habe ich zum ersten und zum letzten Mal als Erwachsener geweint. Wir kamen aus diesem furchtbaren Schlamassel in ein richtiges Haus, sauber, große Räume, helle Scheiben und weißbezogene Betten. Da habe ich geheult, und dann bin ich in diesem Hospital gut zwei Jahre gewesen. Da war ich auf der zweiten Abteilung im Spezialhospital Vol'sk. «

Unter seinen deutschen Arztkollegen identifiziert er rasch verschiedene Spitzel. Deshalb bleibt sein Verhältnis zu den mitgefangenen Ärzten bis zu seiner Entlassung eher durch Mißtrauen als durch Kollegialität gekennzeichnet. Offener ist sein Verhältnis zu den sowjetischen Kolleginnen und Kollegen. Schließlich entwickelt sich - was tatsächlich außerordentlich selten in den Lagern der Sowjetunion vorgekommen ist - ein Liebesverhältnis zu einer russischen Frau, einer sowjetischen Stationsärztin. - »Na, also, jedenfalls wurde es so 'ne richtige Art Liebe. Die Kameraden, die da auf dem Flur und in den Betten überall rumlagen, die sagten dann immer: >Ja, da kommt ja Frau Walter schon wieder!<«

Als die sowjetische Lagerführung dieses verbotene Verhältnis zu seiner mit einem sowjetischen Politkommissar verheirateten Kollegin durchschaut, reagiert sie nach Auffassung Dr. Walters vernünftig und »eigentlich human«. Der Frau geschieht nichts. Er selbst wird - »in einer wunderschönen Wolgareise in Begleitung eines netten Oberleutnants vom KGB, mit dem ich mich glänzend unterhalten habe« - in ein anderes Lager, nach Saratow, verlegt. Es mag sein, daß dieser Abschied von der geliebten Frau und die Abreise in eine aufs neue ungewisse Zukunft im Jahre 1945 nicht ganz so leichtherzig geschehen ist, wie es heute klingt. Aber die Tönung der Erinnerung dieses privilegierten Gefangenen zeigt doch ganz unverkennbar, daß hier ein Mann aus einer Welt erzählt, in die die Maßstäbe des normalen Lebens schon wieder hineinzuwirken begannen. Nicht von personifizierten Stereotypen, von massenhaft dahinbrütenden Deutschen auf der einen und brüllenden Russen auf der anderen Seite ist die Rede, sondern von persönlichen Kontakten zu Leuten, wie sie uns überall zu Hause begegnen könnten. Das ist der Modus des Erinnerns und Erzählens, der die Geschichten und Berichte aus den letzten Jahren der Gefangenschaft prägt; wenn auch nicht immer in der Deutlichkeit wie bei diesem bevorzugten Gefangenen.

Die Lager waren eine differenzierte Gesellschaft. Neben der sowjetischen bestand eine deutsche Lagerführung. Außerdem gab es unter deutschen Gefangenen informelle Funktionen in Fülle, beispielsweise Spezialisten für handwerkliche Arbeiten, für die Lektüre russischer Texte, für Erzählungen usw. Aber es wäre unangemessen, diese Situation hinter Stacheldraht insgesamt mit dem Leben jenseits des Zaunes und in der Freiheit etwa des Jahres 1948 in Deutschland auch nur in einem Punkte gleichzusetzen. Die Lager blieben vom ersten bis zum letzten Tage »totale Institutionen«, in denen das Zusammenleben nach einer sehr rigiden Ordnung verlief, das Verlassen des Lagers ohne Lebensgefahr nur in Begleitung sowjetischen Personals bei Arbeitseinsätzen oder bei Transporten in ein anderes Lager möglich war.

Vor allem lebten die Gefangenen ständig in Angst vor deutschen Spitzeln, waren politisch motivierten Drohungen und Indoktrinationen ausgeliefert. Für die Aktivitäten des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, des »Bundes deutscher Offiziere« und vor allem der organisierten »Antifaschisten« hatte von den Heimkehrern, mit denen wir gesprochen haben, kaum einer eine Spur von Verständnis. Unter den Leuten Lies Nationalkomitees mochte es diesen Aussagen zufolge den einen oder anderen »verirrten Idealisten« gegeben haben. Doch die »Antifaschisten«, die später überwiegend in der DDR ihr Leben fortsetzten, waren ausschließlich Opportunisten, Spitzel, Fanatiker, Privilegienjäger; kurz: die »Lagerprominenz«. In dieser engen Welt voller Konkurrenz um Nahrung und Kleidung, um einen besseren Schlaf- und Arbeitsplatz und vor allem um eine frühzeitige Heimkehr verlor das Kameradschaftssystem der heimatlichen Kaserne und der Front schnell seine normative Kraft. Diese Männer hatten jahrelang »Dienst für ihr Vaterland« getan. Nun war dieses »Vaterland« besiegt, zerstört, diskreditiert. Vor allem waren die Angehörigen und Freunde unerreichbar. Für lange Zeit erreichten keine Informationen von außen die Lager. Viele wußten nicht, ob und wie ihre Angehörigen den Bombenkrieg oder die Vertreibung überlebt hatten.

Quelle- Stalingrad (W.Wette und Gerd R.Ueberschär)

Gruß
Josef

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Hallo Kurt,
Danke erst mal für Deinen Beitrag hier.Schön daß Du mit den Augenzeugen in Verbindung bist.Jede Info ist für mich hier wichtig auch privat.Auch Infos über das Lager Oranki sind mir sehr wichtig weil ich mich auch über Kriegsgefangenlagern  beschäftige.
Das Buch:Hunde wollt ihr ewig leben hab ich leider noch nicht gelesen,aber ich werde es mir aufsuchen und dann es durchlesen.

Grüße
Josef

md11:
Gut Abend Kurt,
bin froh daß Du wieder da bist!
Danke für den Tipp,werd mir das Buch besorgen.Bedanke mich auch für Deine zusammenarbeit hier und über Deine viele tolle Infos hier.

Grüße
Josef

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