Ein Realist der Menschlichkeit
Als der Geschäftsmann Henry Dunant aus Genf 1859 Kaiser Napoleon III. in der Lombardei aufsuchen wollte, um bei ihm seine algerische Mühlenkonzession, die ihm die kolonialen Bürokraten verweigerten, durchzusetzen, geriet er ins Solferino in die blutigste Schlacht des Jahrhunderts. Ein typischer Zeitmensch, nur seinen Geschäften auf Kosten der menschlichen Substanz lebend, stand hier plötzlich der Realität des nackten Lebenskampfes in seiner grausamsten Gestalt gegenüber. Er schloss nicht feige die Augen und floh nicht, er brach auch nicht zusammen vor dem Inferno einer ungeahnten Barbarei, die bis zur Niedermetzelung tausender wehrloser Verwundeter auswucherte: Dunant erlebte sein Damaskus.
Der Genfer Kaufmann zog die Konsequenz und handelte, er schuf auf dem Schlachtfeld durch bloßes Helfen jenseits der bis dahin üblichen Unterscheidung von Freund und Feind, von Siegern und Besiegten, ein überdauerndes Werk, es rief mit traumwandlerischer Sicherheit die Urzelle des Roten Kreuzes ins Leben. Und nach dem Erstaunen, dass jeder schöpferische Beginn in der Masse Mensch bewirkt, erntete er schon mit der praktisch hilflosen, weil unvorbereiteten Tat von Solferino den Sieg, den sie in sich barg: das Volk von Solferino, die italienischen Bäuerinnen gehorchten seinem Ruf und halfen mit - und es erwachte angesichts von abertausend verblutenden, verschmachtenden Verwundeten der erkennende Leitruf über dem Feld des Grauens: "Tutti fratelli! "Alle sind Brüder! - Auch die feindlichen Brüder. - Der wehrlose, wunde Feind wurde verbunden und versorgt, soweit dies ohne die primitivsten Hilfsmittel überhaupt möglich war.
Bis dahin ist das Erleben und Handeln Dunants die Erfahrung und Tat eines aus Herzensträgheit und Geldjagd erwachten Mannes seiner Zeit. Es hat immer und vor allem im 19. Jahrhundert erschütterte Herzen gegeben, die aus dem Erleben mitmenschlichen Leides zum Samaritertum als der Forderung der Stunde fanden und dann wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehrten.
Dunants Wandlung führte jedoch zu einer weltweiten Mission, die den ganzen Menschen abforderte. Und einzigartig wurde sein Werk nur deshalb, weil er in seinem zähen Ringen um eine übernationale bindende Konvention der Staaten bewies, dass hier kein Romantiker des Gefühls, sondern ein Realist der Menschlichkeit seine Forderung an die Menschheit richtete: mit den wachsenden Waffenwirkungen, die seit der Heraufkunft der Technik zu unausdenkbaren Vernichtungen führen müssen, den Kampf durch ein von allen anerkanntes, und völkerrechtlich bindendes, begrenzendes Maß zu vermenschlichen - und im Zeitalter der Masse, der anonymen Kollektiv - Gewalten und ihrer großmächtigen Apparaturen dem Menschen ein erstes und letztes Grundrecht zu sichern, dem Individuum Mensch, wie es als Einzelwesen geboren wird und sterben muss.
Keine idealistische Parole: "Nie wieder Krieg! " - Kein ideologischer Absolutheitsanspruch: " Die Waffen nieder! " - Dunant kannte den Menschen in seiner Paradoxie, seine zwiespältige Natur, seine Götzen und Dämonen, Sein Unmaß und seine Grenzen. Er ahnte die Heraufkunft der vernichtenden Mächte des 20. Jahrhunderts. Und er blieb deshalb ein unbestechlicher Realist, der nicht mehr forderte, als " hier und heute " zu erreichen war. So siegte seine Idee über das tragische Schicksal ihres ersten Trägers hinaus, der sich durch ein diffamierendes Elend bis ins hohe Alter quälen musste.
Das Rote Kreuz überdauerte die beiden unmenschlichsten Kriege der Geschichte, seine Aufgaben wuchsen über das gesetzte Maß des 19. Jahrhunderts weit hinaus; es stand im Luftkrieg vor den verstümmelten und verbrannten Frauen, Greisen und Kindern, im Partisanenkrieg und im Bürgerkrieg vor dem Geiselsystem, im totalen Krieg vor der Zwangsarbeit, Austreibung und Tötung von Millionen Zivilisten.
Und obgleich es - wie sein Gründer in Solferino - nicht das Feuer der Unterwelt zu löschen vermochte, versuchte es zumindest, mitten hinein in den Rachen der Hölle zugreifen, und zeugte so für die Bruderschaft alles Lebendigen - im Dienst an Freund und Feind, auch wenn es paradox erscheint, den Mord zuzulassen und nach dem Schlachten den Überlebenden, so weit sie wehrlos geworden sind, zu helfen.
Nach jener Schlacht bei Solferino lagen 40.000 Verwundete hilflos in ihrem Blut; die ganze Nacht hindurch hörte man das Schreien und Jammern der Verwundeten, und es war einfach unvorstellbar, dass die Ärzte sich der " feindlichen " Verwundeten annahmen. Was galten Menschen! " Was wollen Sie! Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne Eier zu zerschlagen! " Das war die Antwort des Kriegsmannes, des Generals Beaufort, als ihn Dunant auf dem Schlachtfeld Vorwürfe machte.
Mit Mühe gelang es Dunant, österreichische Ärzte, die als Gefangene weggeführt wurden, zur Pflege der Verwundeten frei zu bekommen. Er bildete eine erste Samaritergruppe. Ein Anfang war gemacht.
Jeder deutsche Soldat, gerade auch diejenigen, denen dieses Buch hier gilt, haben etwas von dem Segenswerk Dunants am eigenen Leibe erfahren. Darum gelte ihm auch hier ein Wort des Dankes.
Gerhard Eschenhagen
Quelle: Kriegsblinden Jahrbuch 1954 Seiten 52-54
Gruß
Michael