Autor Thema: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad  (Gelesen 5711 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Offline md11

  • Global Moderator
  • Dauerschreiber
  • *****
  • Beiträge: 4.743
  • Country: 00
  • Geschlecht: Männlich
Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« am: Sa, 24. November 2007, 21:15 »
Wir von der »glückhaften Division« - der 71. Infanteriedivision - lagen in Stalingrad. Nicht nur das: Wir wurden als erste in den Skat geworfen, als es hieß, die Stadt zu durchstoßen und bis zum Wolgaufer vorzudringen. Hart nördlich der Zariza, die die Stadt in zwei Teile teilt, gingen wir vor. Ich, der Obergefreite Willi Jettkowski, gehörte zum Infanterieregiment 191. Mit uns stürmten die Schwesternregimenter IR 194 und IR 211. Wir hatten Stalingrad geschafft. Aber wir wußten noch nicht, daß der Tag kommen würde, an dem Stalingrad uns Landser schnappen würde. Nicht nur unsere Division oder unser Armeekorps, sondern die ganze 6. Armee.

Wir hatten ursprünglich nur eine Sicherungsaufgabe zu erfüllen, nämlich die offene Flanke der Kaukasusfront abzuschirmen. Daraus wurde ein Brennpunkt, ein Schlachtfeld und ein - Schlachthaus, das Stalingrad hieß.

Immer wieder muß ich daran denken, wenn überall die Weihnachtsbäume brennen. Auch wir hatten in unserem Loch in Stalingrad einen Christbaum. Aber unter ihm war es uns zum Heulen ...


»Verdammt, die kommt nicht heil 'runter!« schrie Unteroffizier Jörger, als die Ju 52 mitten in die grauen Wattebäusche der Explosionen hineindrehte. Aber sie tauchte wieder auf, ging tiefer und tiefer, setzte auf dem zerschossenen und durchwühlten Flugfeld von Pitomnik auf, rollte aus und - stand.

Es war Heiligabend. Es hatte wieder einmal geschneit.

Der Platzrand war vollgestopft von abgeschossenen, bruchgelandeten und havarierten Maschinen. Lastwagen standen zerschossen herum, einer noch glosend..
Und dann sahen wir sie: Die Weihnachtsbäume. Sie wurden aus der Maschine ausgeladen und auf einen Wagen geschmissen.

»Die kommen für uns gerade richtig!« meinte Leutnant Gehrlich, unser »Jung-Siegfried«, und wandte sich mir zu. »Wie ist es, Jettkowski? Keine Traute?«
Ich fuhr mit unserem Schlitten auf das Flugfeld. An der Ju 52 angekommen, schnappte ich mir einen Weihnachtsbaum.

»He, Sie da!« rief mir jemand zu. »Was soll das?«

»Befehl von General von Hartmann! Weihnachtsbaum für Gefechtsstand holen!« rief ich ebenso zackig zurück. Die Masche zog i immer.

Dann warteten wir auf die Post. Komisch, daß wir bei allem Kohldampfschieben nicht so auf Verpflegung warteten, sondern auf - einen Brief aus der Heimat.

Wir warfen die Postsäcke für unsere Feldpostnummer auf den Schlitten. Etwas Verpflegung kam hinzu. Dann gondelten wir wie'   der los, Richtung Minia-Zarizaschlucht, wo unser Bataillon am Wolgaufer lag. Der Rückweg durch den festgefahrenen Schnee zeigte uns den Grad der Zerstörungen.

Russisches Werferfeuer begann. Die feuerschwänzigen Geschosse
der »Stalinorgeln« heulten auf uns nieder. Wir sprangen ab, rann   ten um unser Leben, warfen uns in den Schnee. Ich ging in Deckung, tauchte kopfüber in einem Granattrichter unter, griff im Fallen in
ein Gesicht, und als ich mit beiden Händen den Schnee wegschaufelte, blickte ich in weitoffene, tote Augen eines Landsers. Die Erkennungsmarke fehlte. Man hatte ihn also schon gefunden.

»Los, Jettkowski, voran!« brüllte Leutnant Gehrlich von der Rollbahn. Ich rannte zurück, saß auf, und wir rumpelten weiter. Der Bahndamm südlich der Zarizaschlucht tauchte vor uns auf. Wir schwenkten in die Seitenrachel ein, hielten vor dem Divisionsgefechtsstand.

Generalleutnant von Hartmann, das Ritterkreuz im Halsausschnitt, kam heraus. Er winkte ab, als jung-Siegfried ihm zackig melden wollte. Wir luden die beiden Postsäcke für den Stab ab, und dann hockte sich der General zu uns auf den Schlitten. Wir fuhren zum Bataillon weiter. Im Gefechtsstand wurden die Postsäcke aufgeteilt. Ich nahm den für unsere Kompanie auf den Ast, schnappte mir den organisierten Weihnachtsbaum und schob los. Dicht hinter dem Bahndamm, der hier einen Bogen beschrieb, war die niedrige Hütte des Gefechtsstandes. Oberleutnant Kuhn empfing mich schmunzelnd.

»Prächtig, Jettkowski, ausgerechnet ein Weihnachtsbaum fehlt hier noch!« meinte er. »Eine echte Weihnaditsgans wäre mir lieber gewesen!«

»ja, das könnte sein, Herr Oberleutnant. Aber dieser Baum ist ein Geschenk von General von Hartmann für meine Gruppe«, log ich.

Ich ging zu unserem Bunker vor. Es war ein Balkenbunker unter einer dichten Schneedecke. Unteroffizier Jörger stellte den Baum in eine Kartusche. Die Post wurde vom Kompanieschreiber gebracht. Wir saßen wie erstarrt. Nacheinander rief der Unteroffizier die Namen auf. Es waren einige Kameraden dabei, die die Post nicht mehr in Empfang nehmen konnten. Heiligabend! Selbst harte Soldaten wurden da weich ...

Das Feindfeuer verstärkte sich draußen mehr und mehr. Ich nahm die beiden Hundert-Gramm-Päckchen und den Brief, den ich erhalten hatte, und zog mich in meine Ecke zurück.

Als ich den Brief aufgeschlitzt hatte, versank für mich alles um mich her. Ich spürte nicht einmal, wie die Granaten auf dem nahen Bahndamm einschlugen und der Bunker wackelte, als tobe ein Erdbeben.

Das waren die Schriftzüge von Maria, meiner Frau. Wir hatten im Mai 1941 geheiratet. Seitdem hatten wir uns eigentlich nur sechs Wochen gehört. Unsere Tochter Inge war inzwischen geboren worden. Ganz unten, am Ende des Briefes, sah ich den feinen Lippenabdruck meiner Frau. Ich blickte mich verstohlen um. Niemand meiner Kameraden sah zu mir herüber. Sie hatten alle mit sich selbst zu tun. Ich hob den Brief meiner Frau schnell an die Lippen. Es war so, ja, es war wirklich so, als spürte ich ihre Lippen, voll, warm, fraulich auf den meinen, wie in jener Sommernacht vor sechzehn Monaten, da sie mein Kind, unser Kind, empfangen hatte.


« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 17:55 von Adjutant »

Offline md11

  • Global Moderator
  • Dauerschreiber
  • *****
  • Beiträge: 4.743
  • Country: 00
  • Geschlecht: Männlich
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #1 am: Sa, 24. November 2007, 21:21 »
»Lieber Willi«, schrieb sie. »Ich beginne meinen Brief mit dem Wunsch, daß Du wohlauf bist. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich freue, daß Ihr in einer guten Stellung und vollkommen sicher seid. Inge kräht gerade vergnügt, weil ich ihr gesagt habe, daß ich an Vati schreibe. Sie läßt Dich grüßen und fragt, wann Du endlich kommst, um sie Dir anzusehen. Mutter geht es gut. Vater hat wieder seine alte Geschichte mit der Venenentzündung. Aber er sagt, daß er schon hinkommt, wenn Du nur gesund bleibst. Wenn dieser Brief Dich erreicht, ist vielleicht schon Weihnachten. Ich hoffe, er erreicht Dich vorher, damit Du weißt, daß ich immer an Dich denke. Du mußt zu mir zurückkommen, mein lieber Mann. Denn ohne Dich ist das Leben einfach nichts. - Nun fange ich gleich an zu flennen. Du wirst mich auslachen, denn Du bist stark. Du hältst durch, und das wünschen wir uns alle: Daß Du bald gesund zu uns heimkommen kannst. Viele liebe Weihnachtsgrüße! Deine Dich liebende Frau Maria.«

Ich bin nicht stark. Ja, ich flenne wie sie, und ich schäme mich nicht einmal. Und daran, daß es so komisch still im Bunker wurde, erkannte ich, daß es den anderen ebenso erging.

»Die Kerzen, Briehl!« rief der Unteroffizier. Und ich glaube, auch ihm war speielend.
Grenadier Briehl steckte die Kerzen auf die Halter, und dann zündete der Unteroffizier sie an. Einer begann zu singen. Die anderen fielen ein: »Stille Nacht, Heilige Nacht, alles sdiläft, einsam wacht ... «

Und auf einmal war es still. Nicht draußen, nein! Innen, in uns, die wir uns die letzten Wochen gequält hatten mit der einen Frage, die für eine ganze Armee galt: Würden wir noch einmal aus Stalingrad herauskommen? Gab es jetzt noch einen Entsatzvorstoß, nachdem der erste elend mißglüdit war?

Wenn wir hierblieben, dann gingen wir vor die Hunde! Dann deckte uns der Schnee, der so vielen Kameraden hier schon zum Leichentuch geworden war. Aber ich wollte leben! Ich mußte durchkommen!

Ich hörte es neben mir in kurzen Stößen schluchzen. Es war Briehl, der jüngste Nachersatz. Erst im September war er zu uns gekommen. Es war so, als stieße mir jemand ein Messer in die Brust. Dieses Weinen war schrecklich! So weinte ein Mensch, der keine Hoffnung mehr hat. So weinte ein Mensch, der noch nicht gelebt hat und nun um alles betrogen wird. Wir alle wurden betrogen!
»Hör auf, Paul«, sagte ich.

»Sie werden uns kaputtmachen, Willi!« keuchte er. »Sie werden uns in den Schnee stampfen wie Willmann und Hölker und Krause.« »Sie werden nichts mit uns tun, was Gott nicht will«, sagte ich. Ich spürte selber, wie lahm das klang.

Auf einmal begann unser »Opa« Heinrich Wilcke zu lesen. Er hielt seine kleine Feldbibel in den Händen. Er konnte nichts erkennen, aber er kannte gewiß alles auswendig: »Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren ... «

Und als es ganz still war in unserem Bunker, als unser »Opa« die letzten Worte sprach: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen ... «, da auf einmal war ich sicher, daß ich durchkommen würde.

Zwei Stunden später zog ich mit Paul Briehl auf Wache in den vorgeschobenen MG-Kampfstand. Wir waren noch keine zwei Minuten dort, als wir mehrere Gestalten in weißen Schneehemden anrennen sahen.

Russen! Sie liefen eingehängt, und ihr »Urrä«-Gebrüll. hallte zu uns herüber.
Paul zog den Kolben seines MG 42 in die Schulter und begann zu schießen. Wir sahen die leuchtenden Perlschnüre, die den Gegner erreichten und die Reihen auseinandersprengten. Dann fielen alle anderen MG in unser Feuer ein. Die Nacht war tobsüchtig. Und kurz nach Mitternacht schrie Paul Briehl plötzlich auf. Erst dann hörte ich den peitschenden Abschuß. Als ich Paul in die Deckung hinunterzog, war er schon tot. Es war Weihnachten.

Ich drückte ihm die Augen zu. Der nächste Katjuschaüberfall deckte uns ein. Die Werfergranaten hämmerten in den Grund. Da spürte ich plötzlich einen gräßlichen Schlag in der Schulter und sah einen hellen Blitz, der gegen meinen Schädel schlug. Und dann brach die Weihnachtsnacht über mir zusammen ...

Als ich vor Schmerzen wach wurde, lag ich in einem fremden Unterstand. Ich sah einen Weihnachtsbaum. Die Kerzen brannten. Der General saß neben mir. Er gab mir die Hand.

»Unteroffizier Jettkowski, Sie haben sich mit Ihrem Einsatz große Verdienste um die Verteidigung unserer Stellungen erworben«, sagte er, und der General gab mir zwei silberbetreßte Schulterklappen, die mich vom Obergefreiten zum Unteroffizier machten. »Sie werden gleich nach Pitomnik gefahren. Sie sollen aus Stalingrad ausfliegen. Ihre Kameraden möchten Ihnen noch einige Briefe mitgeben. Ich gebe Ihnen auch einen Brief mit, an meine Frau. Werfen Sie ihn in Deutschland ein, nicht vorher. Und - grüßen Sie mir die Heimat!« sagte er ernst. Dann stand er auf, blickte noch einmal auf das Tannenbäumchen und trat ins Freie.

Ich hatte in diesen Augenblicken gar keine Schmerzen mehr. »Das, das kann doch nicht wahr sein!« stotterte ich mit Tränen in den Augen ...

Als unser Verwundetentransport auf dem Flugfeld ankam, war noch keine Maschine eingetroffen.

Erst am anderen Morgen flog eine Ju 52 in den Kessel von Stalingrad ein. Sie wurde von den Russen beschossen. Aber diese Piloten, die Zehntausende Kameraden unter Einsatz des eigenen Lebens aus Stalingrad holten, sie durchstießen den Feuervorhang immer wieder.

Wir fuhren auf das mit Granattrichtern übersäte Flugfeld. Ein Major der Feldgendarmerie hielt uns auf. Ich hatte keinen Marschbefehl. Da nahmen mich Jörger und der Leutnant auf die Arme und trugen mich zur Maschine.

Als sich unsere Ju 52 vom Flugfeld in Pitomnik erhob, wußte ich, daß ich viele Kameraden zurücklassen würde, deren Schicksal mehr als ungewiß war. Stalingrad wurde zum Grab für Hunderttausende.
Am 14. Januar 1943 besuchte mich meine Frau im Lazarett. Es war der Tag, an dem der Flugplatz Pitomnik in Stalingrad in die Hände der Russen fiel.

Der größte Teil meiner Division blieb in Stalingrad. So auch unser General von Hartmann. Als es zum Letzten ging, nahm er den Karabiner eines Grenadiers. Er stieg beim nächsten russischen Angriff auf den Bahndamm und schoß freihändig auf die Angreifer. Eine MG-Garbe mähte ihn weg. Er wollte den Untergang seiner 71. Division nicht überleben.

Das war mein Weihnachtsfest 1942, das ich nie vergessen kann. Es war Weihnachten in Stalingrad, in der Stadt, die einer ganzen Arrnee zum Verhängnis wurde und die das Blut unzähliger Kameraden getrunken hat.

Quelle-Kriegsschicksale in Dokumenten (1985)

mfg
Josef

Offline adrian

  • Unterstützer
  • Unterstützer
  • Kaiser
  • ***
  • Beiträge: 1.197
  • Country: de
  • Geschlecht: Männlich
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #2 am: So, 25. November 2007, 09:34 »
Hallo Josef,

diese ergreifende Geschichte erzählt von Glück im Unglück.
Die Überlebenden wurden ausgeflogen aus dem Kessel von Stalingrad.
Die in die Gefangenschaft gingen kamen fast alle um. Nur die am wenigsten
unterernährt waren und die meisten Offziere kamen durch, ganze 6.000 waren es.
Ich mag heute noch nicht dran denken, wie die Menschen dort starben,
elendig vielfach krepierend, denn ein Sterben ist anders. Dieser Bericht (Erinnerung) hat
mich stark bewegt.

Gruß Werner
Suche alles zur 60. Inf.Div. (mot.) (Danziger Division) bis Stalingrad

Offline Landser162

  • Mitglied im Bund der fleissigen Schreiber
  • König
  • *****
  • Beiträge: 764
  • Geschlecht: Männlich
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #3 am: Fr, 26. Dezember 2008, 20:40 »
Danke für die Geschichte Josef.

Feliz Año Nuevo - Happy New Year - feliz Ano Novo - gluckliches Neues Jahr - Bonne Année - Felice Anno Nuovo!!!    :]

Grüße. Raúl M  8).

Offline Hummel42

  • Foren As
  • *****
  • Beiträge: 91
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #4 am: Sa, 27. Dezember 2008, 13:03 »
Interessant Geschihte.
ich habe "Gartman Stadt" gesehen.
« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 17:54 von Adjutant »

Offline adrian

  • Unterstützer
  • Unterstützer
  • Kaiser
  • ***
  • Beiträge: 1.197
  • Country: de
  • Geschlecht: Männlich
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #5 am: Sa, 03. Januar 2009, 15:20 »
Hallo Sergej,

was ist "Gartman Stadt", habe ich da vielleicht geschlafen, als hierüber
etwas erzählt wurde. Klär mich/uns doch bitte mal auf.
Danke

Gruß Werner
Suche alles zur 60. Inf.Div. (mot.) (Danziger Division) bis Stalingrad

Offline six.darkness

  • Unterstützer
  • Tripel-As
  • ***
  • Beiträge: 243
  • Country: 00
  • Geschlecht: Männlich
Re: Weihnachten in der Hölle von Stalingrad
« Antwort #6 am: Sa, 03. Januar 2009, 20:12 »
hallo alle zusammen,

das hier habe ich von einer freundinn meiner oma bekommen die im kessel von Stalingrad mit dabei war.

gruss R.
« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 17:54 von Adjutant »
Niemand sollte Vergangenes mit dem Maßstab von Heute beurteilen.

 


SimplePortal 2.3.2 © 2008-2010, SimplePortal