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Der Erste Weltkrieg als militärhistorische Zäsur
« am: Di, 16. Mai 2006, 16:41 »
Der industrialisierte Krieg

Der Erste Weltkrieg war der erste vollständig industrialisierte Krieg, in dem man versuchte alle verfügbaren personellen und materiellen Reserven aufzubieten. Die Ursprünge des von den Nationalsozialisten propagierten „Totalen Kriegs“ finden sich vor Verdun und an der Somme. Hatte das Zeitalter der Millionenheere bereits während der Französischen Revolution mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht begonnen, erreichte es während des Ersten Weltkriegs eine neue Dimension. Das Deutsche Reich hatte während des Kriegs durchschnittlich knapp 7 Millionen Männer unter Waffen, die ausgerüstet werden mussten. Die Kriegswirtschaft erreichte aufgrund der gewaltigen Material- und Blutschlachten im Ersten Weltkrieg zuvor ungekannte Ausmaße. An manchen Tagen des Kriegs wurde mehr Munition verschossen als während des gesamten Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71. Die völlige Industrialisierung der Kriegsführung zeigte sich auch in der tausendfachen Produktion von Geschützen, Maschinengewehren, Panzern und Kampfflugzeugen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Ohne Rücksicht auf zivile Belange wurden alle Ressourcen an die Front umgeleitet. Die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland bis 1923 (Hungersnöte, Inflation, Hyperinflation) sind zum erheblichen Teil Spätfolgen dieser Kriegspolitik gewesen.

Zäsur der Mentalität von Soldaten und Befehlshabern

Viele Soldaten zogen zunächst mit einer romantisch verklärten Vorstellung vom Krieg in die Schlacht, die angesichts moderner, in gewaltiger Zahl eingesetzter Waffen äußerst anachronistisch war. Wusste zu Beginn des Zweiten Weltkrieges praktisch jeder Soldat, was Panzer und Flammenwerfer sind, war dies während des Ersten Weltkrieges zunächst nicht der Fall. Deshalb hatte derartiges Kriegsgerät im Ersten Weltkrieg einen verheerenden psychischen Effekt auf Soldaten, gegen die es eingesetzt wurde. Auch die Kriegstaktik war von einer unzeitgemäßen Mentalität geprägt. Zu Beginn des Krieges ließ man die Infanterie oftmals in dichter Schützenreihe und nur unter dem Einsatz des Bajonetts angreifen, was meist katastrophale Folgen hatte.

Bild des Soldaten

Der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten führte einen starken Mentalitätswechsel herbei. In militaristischen Kreisen kam nach dem Krieg das Idealbild des Soldaten auf, der vollständig abgehärtet, emotionslos und grenzenlos belastbar ist. Dieser wird in keiner Weise mehr durch seine Persönlichkeit, sondern durch seinen markanten Helm repräsentiert. Diese Vorstellungen veranlassten einen im Dezember 1918 gegründeten Bund ehemaliger Frontsoldaten dazu, sich nach dem Stahlhelm zu benennen. Das Ideal vom bedingungslos harten, rücksichtslosen Soldaten wurde insbesondere von den Nationalsozialisten aufgegriffen. Zum Bild gehörten auch die verkrüppelten Kriegsteilnehmer, die mit vorher unbekannten (Gesichts-)Entstellungen und Amputationen in ein Zivilleben entlassen wurden, das noch keine moderne Prothetik, berufliche und medizinische Rehabilitation kannte. Die seit Johann Goerke in Preußen als medizinische Teildisziplin anerkannte Militär-Chirurgie arbeitete noch ohne Antibiotika und weitgehend ohne Anästhesie.

Ausrüstung

Auf die enorm wichtig gewordene Tarnung und Deckung im Feld nahmen mehrere Armeen zunächst keine Rücksicht. Die Franzosen zogen 1914 mit blau-roten Uniformen in den Krieg, mit denen sie weithin sichtbar waren. Auch die deutsche Pickelhaube gehörte eigentlich in eine vergangene Epoche. Ihre Spitze verriet oftmals vorzeitig einen geplanten Sturmangriff, da sie meistens aus dem Graben ragte. Erst im Laufe des Jahres 1916 wurden die meisten deutschen Frontsoldaten mit einem zeitgemäßen Stahlhelm ausgestattet. Interessanterweise wurde der Begriff "Tarnung" und das Verb "tarnen" erst im ersten Weltkrieg in den deutschen Wortschatz aufgenommen. Grund hierfür war, dass man ein heroischeres Wort für "verstecken/verbergen" benötigte. Deshalb wurde ein längst vergessenes mittelalterliches Wort wiederbelebt.

Verschwinden der Kavallerie

Der häufige Einsatz von Kavallerie in der Anfangsphase des Kriegs stellte einen eindeutigen Anachronismus dar und endete oftmals in einer Katastrophe. In den späteren Kriegsjahren wurden einige Kavalleristen als Ordnungstruppen im Hinterland der Front eingesetzt, während sich andere zu Kampfpiloten ausbilden ließen. Lediglich die britische Armee setzte bis zum Ende des Kriegs auch an der Front ihre Reiterei ein. So sollten in der Flandern-Schlacht von 1917 britische Kavallerie-Einheiten flüchtende deutsche Truppen endgültig schlagen, wozu es jedoch nicht kam.

Aberglaube

Der während des Ersten Weltkriegs stark verbreitete Aberglaube stand in einem gewaltigen Gegensatz zu der militärischen Realität. Viele Soldaten erwarben Talismane und „Nothemden“, mit denen sie sich vor Verwundungen zu schützen suchten. Dasselbe Phänomen trat gehäuft bereits während des Dreißigjährigen Krieges auf. Angesichts von Maschinengewehren mit einer Feuerrate von über tausend Schuss pro Minute und Geschützen mit einem Kaliber von bis zu 42 cm wirkt dieser Aberglaube wie ein Überbleibsel aus mittelalterlicher oder sogar vorchristlicher Zeit.

In dem Film Bataillon der Verlorenen wird gezeigt, wie italienische Soldaten nach antikem Brauch ihrem tödlich getroffenen Kameraden noch eine Münze in den Mund schieben, damit er dem Fährmann Charon die Überfahrt über den Styx in das Totenreich bezahlen kann.

Die Urteilsfähigkeit der Militärs

Auf beiden Seiten waren die Militärs besser auf den vorhergehenden als auf den gegenwärtigen Krieg vorbereitet. Obwohl es im amerikanischen Sezessionskrieg schon Schützengräben, Schnellfeuergewehre, Materialschlachten und sogar U-Boote gegeben hatte, schenkten die Militärs diesen Aspekten des Kriegs wenig Beachtung. Viele glaubten allen Ernstes noch an eine entscheidende Rolle der Kavallerie und versprachen ihren Regierungen einen schnellen Sieg. Auf beiden Seiten hatte man Massenheere aufgestellt, hatte aber keine konkreten Vorstellung von deren Führung, insbesondere was Versorgung und Mobilität betraf.

Der Erste Weltkrieg als Epochenzäsur

Mit dem Ersten Weltkrieg ging eine Epoche zu Ende – das lange 19.  Jahrhundert wie es oft genannt wird, das mit der Französischen Revolution (1789) begonnen hatte und gemeinhin als das bürgerliche Zeitalter apostrophiert wird. Dies war bereits den Zeitgenossen bewusst. Der britische Außenminister Sir Edward Grey meinte, dass in Europa die Lichter ausgingen; Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sprach in düsterer Vorahnung von einem „Sprung ins Dunkle“.

Der Erste Weltkrieg war – wie es der US-amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan ausdrückte – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Er war vor allem ein Ereignis, das sich fatal auf die weitere Geschichte Europas auswirkte: Oktoberrevolution, Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus und schließlich der Zweite Weltkrieg sind ohne die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs nicht denkbar. Einige Historiker fassen die Jahre von 1914 bis 1945 als zweiten Dreißigjährigen Krieg zusammen und beschreiben die Zeit der Weltkriege als Katastrophenzeit der deutschen Geschichte.

Mit dem Ersten Weltkrieg endete eine Epoche unbedingten und optimistischen Fortschrittsglaubens, eine große Desillusionierung durch die mörderische Realität der Materialschlachten und Grabenkämpfe setzte ein. Die Ordnung des 19. Jahrhunderts geriet aus den Fugen: parlamentarisch-demokratische Republiken lösten die liberal-konstitutionelle Regierungsform mit stark autokratischen Zügen besonders im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn ab. Letzteres zerfiel in mehrere neue Staaten. Die republikanische Staatsform löste in Europa endgültig die monarchische ab. Diesen Republiken blieben jedoch die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen sowie die politischen Konzepte der Vorkriegszeit, um ihnen zu begegnen, erhalten. Alsbald brach sich die Krise der bürgerlichen Gesellschaft Bahn und sie wurden durch den Aufstieg großer faschistischer und kommunistischer Massenbewegungen bedroht, die in diktatorische und totalitäre Regime mündeten. Die bürgerlich dominierte Stände- und Klassen-Gesellschaft wandelte sich in Teilen zur Massengesellschaft.

Der Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und in der Türkei und der daraus folgende soziale und politische Umbruch mündete vor dem Hintergrund weiterhin schlechter Wirtschaftskonjunkturen zum Teil in äußerst instabile Regierungssysteme in den Nachfolgestaaten vor allem Ostmitteleuropas.

Die USA wurden durch ihr Eingreifen in den Ersten Weltkrieg zur dominierenden Weltmacht. Staaten wie Großbritannien und Frankreich gerieten in wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA. Der Erste Weltkrieg leitete das Ende der europäischen Vormachtstellung ein – auch durch die allmähliche Emanzipation der Völker Afrikas und Asiens vom Kolonialismus. Die eurozentrische Weltordnung wurde abgelöst durch eine zunehmende Polarisierung zweier Supermächte.
« Letzte Änderung: Mo, 21. Juni 2010, 14:44 von Adjutant »

 


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