Der Fall Alfred Redl
Die Geschichte des militärischen Kundschaftsdienstes beginnt mit der Geschichte der Planung militärischer Bewegung durch den Feldherrn des Wehrpflichtheeres und seinen Stab, durch Napoleon Bonaparte. Die Bewegungen wurden zu Lande durch moderne Transportmittel beschleunigt, vornehmlich durch die Eisenbahn, durch Nachrichtenmittel wie Telegrafie und Telefon, raschere Briefzustellung, jedoch erschwert durch Kryptografie und Täuschung.
Aller dieser Mittel bediente sich die Tätigkeit der Generalstabsoffiziere, die etwa in Österreich, Preußen und Bayern ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auf (höheren) Kriegsakademien oder Kriegsschulen gelehrt, geprüft und trainiert wurden. Zum Mittelpunkt ihres Denkens wurde neben der Verbesserung der militärischen Taktik die militärischen Optionen, die Bewegung von Truppenkörpern im Krieg – und daher auch das Denken über das Erkennen der Gegenmaßnahmen der Truppenkörper des mögliche militärischen Gegners. Seit dem Auftreten des genialen preußischen Chef des Generalstabes des Feldheeres, Hellmuth von Moltke, der das „getrennt marschieren – vereint schlagen“ in den deutschen Einigungskriegen 1866 und 1870 fast zur Perfektion erhob und sich nur schwer einer politischen Führung nach dem Ausbruch eines Krieges beugte, wurden Mobilisierungsmaßnahmen geprobt und Aufmarschpläne per Bahn geplant.
Etwa seit der Zeit des Wiener Kongresses wurden zunächst unter Verbündeten, dann zwischen allen Staaten Militärattachès ausgetauscht, die sich mehr oder weniger offen für das Militärwesen des Freundes interessieren sollten. Spätestens seit der Verfestigung von Militärbündnissen, wie z.B. dem Zweibund von 1879, kamen andere Institutionen dazu: Um den „Chef“ reihten sich seit 1850 die Operationsbüros des Generalstabes, die Eisenbahnbüros und die Büros für die Führung oder die Abwehr von Kundschaftsoffizieren. Die sich jenseits der Staatsgrenze militärische, geographische und technische Kenntnisse für den „Aufmarsch“ und die Operation
verschaffen sollten – in Österreich das Evidenzbüro des Generalstabes für den offensiven und den defensiven Kundschaftsdienst, gemeinhin auch Spionage und Gegenspionage genannt – und den Außenstellen bei den Korpskommanden der Donaumonarchie.
Der Offizier Alfred Ledl, Geburtsjahrgang 1864, war ukrainischer Abstammung. Er ergriff die Generalstabslaufbahn, war zeitweise zu Sprachstudien in Russland und wurde von 1899 bis 1911 im Evidenzbüro eingeteilt. Er stieg bis zum Oberst im Generalstabskorps auf und war schließlich stellvertretender Bürochef und Leiter der Gegenspionage. Er war 1912/1913 Generalstabschef des VIII. (Prager) Korps.
Ab Herbst 1906 scheint der russische Militärattachè Oberstleutnant Martchenko für Major Redl den russischen Militärnachrichtendienst gedungen zu haben. Es ist unklar, ob er infolge seiner nachweisbaren homophilen Neigungen erpresst wurde, oder ob sein Drang zu einem höchst aufwendigen Lebenswandel ihn zu Verratshandlungen gegen hohe Geldzuwendungen trieb. Diese bestanden mit großer Wahrscheinlichkeit in erster Linie im „Auffliegen-lassen“ einer großen Zahl eigener Kundschafter, die im Ausland gegen Russland arbeiteten, sodaß der österreichische Nachrichtendienst gegen Russland um 1912 weitgehend blind und lahmgelegt war. Unter jenen zugunsten Österreichs agierenden Persönlichkeiten befanden sich auch solche des baltischen Adels, wie der in den Aufzeichnungen des k. u. k. Militärattachès in St. Petersburg Lelio Graf Spannocchi erwähnte Graf von Ungern-Sternberg. Jener Militärattachè war es auch, der schon vorzeitig aufgrund von Informationen von Attachèkollegen dem Chef des Evidenzbüros Warnungen über einen Verräter im eigenen Büro zukommen ließ. Sie wurden zu wenig beachtet. Es scheint sicher zu sein, dass er den Aufmarschplan von 1911 gegen Russland, zumindest den Aufmarsch „seines“ Korps – und damit ein wesentliches Element -, neben dienstlichen Behelfen und Mobilisierungsinstruktionen fotografisch übermittelt hat. Mit Hilfe des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, einem eigens gebildeten Stab unter Major i.G. Maximilian Ronge, dem auch der Hauptmann Hermann Zerzawy angehörte, und mit Hilfe von Detektiven der Staatspolizei unter Regierungsrat Gayer und Regierungsrat Schober konnte Redl gefasst werden.