Autor Thema: Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten  (Gelesen 1881 mal)

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Offline zirkulon

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Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten
« am: Sa, 16. Dezember 2006, 22:46 »
Titel: Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten
Herausgeber: Joachim Wieder, Heinrich Graf von Einsiedel
Verlag: Herbig
Erscheinungsdatum: 1962
Seitenzahl: Ausgabe 1993, 380 Seiten
ISBN: 3-7766-1778-0
Sonstiges: Ich lese das gerade.
Es beginnt mit den Erinnerungen eines Überlebenden und zwar den persönlichen Erinnerungen und die gefühlten Erinnerungen. Wer hier Einzelheiten der Kampfsituationen sucht braucht sich dieses Buch nicht zu holen. Das wird eigentlich nur grob behandelt. Es schildert aber sehr anschaulich die Zustände dieser in Wirklichkeit verratenen Armee, Hoffnungslosigkeit bis zum totalen Zusammenbruch. Eine Schlacht (schlachten) im wahrsten Sinne des Wortes und ein absehbarer Totalverlust einer ganzen Armee. Im 2ten Teil wird bezüglich einiger hoher Generale ( von Manstein, Paulus und Seydlitz) und deren eigene Veröffentlichungen, Stellung bezogen zu deren teils "geschönte" bzw. unrichtige Angaben.
Im Anhang: Die Literatur über Stalingrad - Ein kritischer Bericht
Anmerkungen
Dokumente
Kartenskizzen

Der erste Teil ist sehr interessant, es mal so zu Lesen....
Etwas trockener wird das Thema mit den Generalen, es ist aber eine Richtigstellung diverser Dinge die gerne unter den Tische gekehrt wurden und werden. Dort lese ich gerade... Dauert also noch einige Tage bis ich durch bin...

EMPFEHLENSWERT für Menschen die sich auch mit den Hintergründen beschäftigen möchten.

Mit folgender Widmung:
Dem Gedächtnis der Opfer
von Stalingrad

Dem schließe ich mich an.

Gruß
Michael
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Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten
« Antwort #1 am: Fr, 22. Dezember 2006, 14:20 »
Auszug aus dem oben angegebenen Buch:

Der Blick in den Abgrund

In quälender Tatenlosigkeit und Verzweiflung erwarteten wir dicht zusammengedrängt in unserem düsteren Kellergewölbe auf das Ende. Die Granaten oder Fliegerbomben konnten es zu jeder Stunde für uns herbeiführen, noch vor dem Erscheinen des Siegers. Der Russe hatte gleich nach Beseitigung des Südkessels seine schweren Waffen umgruppiert und mit wütender Entschlossenheit ein mörderisches Feuer auf unseren Stalingrader Norden eröffnet.

Die letzten Widerstandsnester der Reste von ungefähr sechs zusammengeschlagenen Divisionen und zusätzliche Trümmer anderer Verbände, die von der inzwischen abgetretenen Armeeführung ihrem Schicksal überlassen worden waren, mussten nun die ganze Wucht der auf engem Raum konzentrierten feindlichen Luftangriffe, Artillerie und Granatwerfer über sich ergehen lassen. Immer wieder krachte und erzitterte unser Gewölbe in allen Fugen, und dicke Sand- und Staubwolken legten sich stets von neuem auf die von Todesfurcht erfüllten Menschen. Unerträglich schleppend war der Gang der Zeit, sie schien stillzustehen oder vielmehr langsam zu versinken in einem grundlosen Meer der Leiden.

Nicht die Angst vor dem herannahenden Ende, nicht der in den Eingeweiden wühlende Hunger und nicht die von den erfrorenen Gliedern herrührenden Schmerzen waren es allein, die mit die letzten langen, schier endlosen Stunden im Stalingrader Kessel zu einer Höllenqual machten. Bei aller körperlichen Erschöpfung erlebte ich einen Zustand der Überwachheit, der mich mit geschärften Sinnen in den Abgrund unseres Unglücks, in die Schuld verhaftete grauenvolle Tiefe unserer Katastrophe blicken ließ. Die Nachbarschaft des Todes riß die letzten vernebelnden Schleier von den Augen und brachte die Früchte jahrelanger Einzelergebnisse, Beobachtungen, peinigender Empfindungen und Gedanken zu plötzlicher Reife. Jetzt, am Rande des Daseins, wurde der Krieg in seiner für uns fürchterlichsten Form zum unerbittlichen Enthüller der Dinge. Seine sittliche Fragwürdigkeit und Sinnlosigkeit, aber darüber hinaus auch der gesamte verhängnisvolle Irrweg im großen, der folgerichtig in die Stalingrader Hölle geführt hatte, kam mir mit niederschmetternder Gewissheit zu Bewusstsein und in den erbarmungslosen Hexensabbat ringsherum fühlte ich mich schuldhaft mit hinein verstrickt. Diese Erkenntnis lastete nun als bleiernes Gewicht auf mir und beschwerte mir Herz und Gewissen.

Die grauenvollen Erlebnisse und Bilder des Untergangs, die mir Tag und Nacht keine Ruhe mehr ließen, reihten sich vor meinem geistigen Auge zu einer blutigen Kette aneinander. Weit in die Vergangenheit zurückreichende Erfahrungen und Eindrücke, die mit einem Male ganz wach wurden in meiner geschärften Erinnerung, entdeckte ich als logische verknüpfte Glieder dieser unheilvollen Kette. Was mir früher schon immer zu bösen Ahnungen und Befürchtungen Anlass gegeben, was mich von jeher nachhaltig beunruhigt hatte, das musste ich nun auf einmal erkennen als die warnenden Auswüchse eines in solchen Ausmaßen niemals für möglich gehaltenen, verheerenden Grundübels.

Gruß
Michael
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Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten
« Antwort #2 am: Fr, 22. Dezember 2006, 14:23 »
Ein weiterer Auszug

Wir gehen in Gefangenschaft

Am Nachmittag des 1. Februar hielten wir unwiderruflich unsere letzte Stunde für gekommen. Anhaltendes schweres Artillerie und Granatwerferfeuer trommelte auf den Stalingrader Norden, und schließlich gab es noch einen Luftangriff von mörderischer Heftigkeit auf die elenden Trümmerreste unseres Stadtviertels. In unserem immer wieder erbebenden Kellergewölbe hockend, wo umherwirbelnder Staub und Sand stets von neuem das Atmen erschwerte, hörten wir den Höllerlärm, den draußen ringsum Tod und Vernichtung vollführten. Jeder Augenblick musste uns das Ende bringen. Aber, o Wunder! Wir wurden nicht mit zermalmt, sondern blieben am Leben und krochen bald nach Beendigung des Angriffs geschwind durch unsere Falltür nach oben, begierig, die reine, frische Winterluft in vollen Zügen einzusaugen.

Die erste Dunkelheit des einbrechenden Abends hatte sich mitleidsvoll auf die Bilder des Grauens gesenkt. Es herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Unser uns sonst so vertrautes Ruinenfelder war kaum wiederzuerkennen. Ringsherum hatten sich tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Ganze Reihen von Häusertrümmern waren vollends verschwunden, die Straße war überall aufgerissen, und wo vorher freie Flächen sich dehnten, wölbten sich nun wüste Haufen von Schutt und Steinen. Was war mit all den Menschen geschehen, die in dieser Ruinenwelt Unterschlupf gefunden hatten? Hier und da brannten Gebäudereste lichterloh, und weiter im Hintergrunde- mir schnürte es die Kehle zusammen!- loderten die Flammen auch genau an der Stelle empor, wo sich ein mit Kranken und Verwundeten voll gepfropftes Lazarett befand.

Wenige Tage zuvor war ich dort gewesen und hatte, umringt von einer hilflosen Schar überschwänglich dankender Italiener, den Führer dieser Gruppe, einen verwundeten jungen Leutnant, dort abgeliefert. Bei dieser Gelegenheit hatte ich noch einmal tief in den Jammer der überfüllten Verbandsplätze und Lazarette erblicken müssen. Fast an jeder Tür hatte man uns abgewiesen, und so waren wir mit unserer traurigen Last lange vergeblich von Ort zu Ort gezogen, bis sich schließlich ein mitleidiger Arzt des Verwundeten erbarmt und das schier Unmögliche möglich gemacht hatte. Übrigens waren es etwa 30 Italiener, die im November von ihrer Armee im Donbogen mit einer größeren Fahrzeugkolonne zum Holz hohlen nach Stalingrad geschickt worden waren. Hier hatte sie dann das Schicksal ereilt; denn aus dem Kessel gab es kein Entweichen mehr. In der Hölle von Eis und Blut bedauerte ich in besonderem Maße diese Söhne des sonnigen Südens, die in der Schlacht- fern von ihrer Truppe- wohl noch zusätzliche Leiden zu erdulden hatten; denn sie vermochten sich kaum zu verständigen, und niemand konnte sich recht für sie verantwortlich fühlen zu einem Zeitpunkt äußerster Not, wo jeder sich selbst der Nächste war.

Die unheimliche Stille, die draußen über der gespenstisch verwandelten Landschaft lag und von keinerlei Kriegslärm mehr unterbrochen wurde, verfolgte uns in unseren Keller. Hier besprachen wir im Kameradenkreis unser Schicksal. Es kam plötzlich eine seltsame, fast krankhafte Bewegung in unsere Gruppe, in der zuletzt nur Einsilbigkeit geherrscht hatte. Besonders die jüngeren Kameraden unter uns lehnten sich mit einem Male verzweifelt auf gegen das Geschehen. Es musste gehandelt werden. Die Ruhe vor dem Sturm forderte dazu heraus. Man hielt es nicht mehr aus in dem Keller, der beim nächsten Angriff unser Grabgewölbe sein würde. Es war wie ein sich Aufbäumen des Lebenswillens inmitten der von allen gefühlten Sinnlosigkeit des Aushaltens und Leidens. Wie konnten da die längst entleerten Begriffe von Ehre, Pflichterfüllung, Gehorsam, soldatischem Heldentum im Empfinden, Denken und Handeln noch eine Rolle spielen! Am Leben zu bleiben, die Lieben und die Heimat noch einmal wieder zu sehen, dieser brennende Wunsch war jetzt der Antrieb zu allem Grübeln und Tun. Überall, wo ich zuletzt hingekommen war, hatte ich die gleiche Haltung und Stimmung vorgefunden. Und selbst langgediente Berufsoffiziere dachten nicht mehr daran, die nach wie vor gültigen Befehle des Kampfes bis zur letzten Patrone in diesem Chaos noch ernstzunehmen, und im Einsatz den Tod zu suchen.

Schon einige Tage zuvor hatte ein aktiver Hauptmann und Generalstabsanwärter gegen die bestehenden Befehle unseren Kreis verlassen, und wir hatten es ganz natürlich gefunden. Er war nach längeren, in aller Stille betriebenen Vorbereitungen mit weißem Tarnanzug noch einmal erschienen, begleitet von einigen russischen Hilfswilligen, um sich von uns zu verabschieden. Sein Plan war, die feindlichen Linien auf eigene Faust zu durchbrechen und irgendwo den Anschluss an die deutsche Front zu finden.

Diesem Beispiel folgten nun zwei weitere Kameraden, der junge Feldgendarmeriehauptmann unseres Staabes und unser Dolmetscher-Sonderführer, den ich in langem Beisammensein als Menschen schätzen gelernt hatte. Ihr Entschluss war allmählich herangereift, zuletzt entscheidend gefördert durch die Furcht vor einer möglichen Gefangennahme und einer erbarmungslosen Verfolgung durch den NKWD. Nichts mehr vermochte sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Vergeblich bemühte ich mich, die Aussichtslosigkeit des geplanten Unternehmens darzulegen.

Es ging ja dabei nicht nur darum, den todbringenden feindlichen Umschließungsring zu durchbrechen, sondern es war mit unzureichender Ausrüstung, mangelnder Verpflegung und bei schneidendem Frost eine Entfernung von über 300 km zu überwinden, meist in nacktem, eisigem Steppenraum. Nicht ein Bruchteil der dafür notwendigen Strapazen war dem vom Hunger entkräfteten Körper zuzumuten. In einem solchen Verzweiflungsabenteuer erblickte ich nicht die geringste Chance der Rettung. Aber der Dolmetscher, der zu Beginn des Russlandfeldzuges von seinem gerade abgeschlossenen Universitätsstudium zu uns geschickt worden war und mit dem ich seit Jahr und Tag in manch vertrautem Gespräch unsere geheimen Sorgen besprochen hatte, war für Vernunftgründe nicht mehr zugänglich. Es trieb ihn weg aus dem Kameradenkreise, aus dem Keller, aus der Hölle von Stalingrad. Er wollte den Tod nicht länger untätig auf sich zukommen sehen, lieber wollte er ihm handelnd in die Arme laufen. Und so gab es ein Abschiednehmen auf Nimmerwiedersehen.

Von den Zurückbleibenden hing ein jeder seinen Gedanken, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen nach. Niemand vermochte des anderen Last abzunehmen, aber die Kameradschaft und Gemeinsamkeit des über alle verhängten Schicksals machte doch die niederdrückende Schwere in jener Stunden erträglicher. Noch deutlich seh ich die bleichen, bärtigen, von Schrecken und Entbehrungen gezeichneten Gesichter vor mir. Wir sahen alle heruntergekommen aus, verschmutzt und übernächtigt. Wie lange waren wir auch nicht mehr aus den Kleidern herausgekommen! Längst war jeder Scherz und Galgenhumor in unserem Kreise erloschen.

Selbst jener so lebenslustige, stets froh gelaunte Reservehauptmann, der daheim Oberbürgermeister einer mittelschlesischen Stadt war, hatte sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen, offensichtlich tief erschüttert und verzweifelt über das Geschehen. Er war ein ehrlicher Nationalsozialist, ein blühender Idealist, durch und durch, und bereit für seine Weltanschauung zu leben und zu sterben. Jetzt wollte er seinem Leben ein Ende machen. Die russische Gefangenschaft kam- so hatte er schon immer erklärt- für ihn nicht infrage; hatte er doch am Ende des Ersten Weltkrieges bereits einmal als Gefangener im Westen unter der körperlichen und seelischen Not der Unfreiheit gelitten. Als Abwehroffizier fürchtete er, wohl mit Recht, eine besonders schlimme Behandlung durch den Russen. Er war fest entschlossen zu sterben. Vergeblich bemühte ich mich, ihn umzustimmen. Auch der Hinweis auf seine Familie daheim, auf seine Kinder, deren Bildchen ich oft angeschaut hatte, vermochte ihn nicht von dem einmal gefassten Vorsatz abzubringen. Erst als im letzten Augenblick der Schlagbolzen der Pistole versagte, gelang es uns, ihn davon zu überzeugen, dass ihm das Schicksal einen Wink gegeben habe.

Da war noch unser Kommandant des Korpshauptquartiers, ein Reservehauptmann und Senatspräsident Ostwestfalens. IhnWie beneidete ich im Stillen; denn er allein hatte noch eine sinnvolle Tätigkeit, der er sich bis zur letzten Stunde gewissenhaft und selbstlos widmete. Seine Aufgabe war, für den Rest unserer Mannschaften, die in einer nahen Ruine untergebracht waren, und für unsere kleine Offiziersgruppe im Keller zu sorgen. Freilich, das Brot war längst zur Neige gegangen- in den letzten Tagen gab es nur noch 38 g pro Kopf-, und die eisernen Rationen waren aufgegessen, aber es war ihm immer wieder nocheinmal geglückt, etwas Pferdefleisch für uns aufzutreiben, und jetzt, da das Ende der Katastrophe zu sehen war, wurde ein kleiner Bestand aufgesparter Konserven ausgeteilt und einem Jeden also noch eine Stärkung auf den vielleicht schwersten Gang des Lebens mitgegeben....

... Die Truppe leistete aber ohnedies keinen Widerstand mehr. Wie im Spätherbst die ermatteten, halbtoten Fliegen von der Hand hinweggefegt werden, so wurden die Massen der ermüdeten, von endlosen Leiden erschöpften und apathisch in ihr Schicksal ergebenen Menschen vom Russen eingesammelt und davongetrieben. Sie quollen aus Ruinen, Unterständen und Kellern heraus, so weit sie sich noch auf den Beinen halten konnten, und bildeten auf den Straßen lange Züge des Jammers und der Hilflosigkeit. Auch unsere überlebende kleine Gruppe war bald irgendwo in dieser formlosen Menge eingereiht.

Gruß
Michael
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« Antwort #3 am: Fr, 22. Dezember 2006, 14:24 »
Weiter:

Ich empfand in diesen ersten Minuten der Gefangenschaft ein Gefühl der Entspannung und Befreiung; denn mit bleierner Schwere hatte zuletzt die Ungewissheit unseres Zustandes zwischen Tod und Leben auf uns Allen gelastet. War der Marsch, den wir nun antraten, nicht ein Ausweg aus Entsetzen und Grauen? Und warteten denn nicht doch vielleicht an seinem Ende, freilich in einer fernen, verhüllten Zukunft, das Licht und die süße des freien Lebens? Die Verwandlung, die sich mit uns und um uns plötzlich vollzog, hatte allerdings etwas Bedeutendes und Verwirrendes.

Die anfängliche Benommenheit wurde allmählich beiseite gedrängt durch das Heranbranden einer unbekannten Welt. Was mir vornehmlich in die Augen sprang, war der gesunde, frische Eindruck der Sieger und ihre einfache, beneidenswerte Winterbekleidung und gute Bewaffnung. Überall Maschinenpistolen und das einheitliche Bild von kurzen Schlafpelzen, weite Jacken, Filzstiefeln und Pelzmützen mit breiten auf- und nieder wippenden Ohrenklappen. Die warm eingepackten, wohl Genährten, glänzend ausgerüsteten Rotarmisten mit ihren dicken meist rot backigen Gesichtern bildeten einen krassen Gegensatz zu unseren leichenblassen, verschmutzten, bärtigen, frierenden Elendsgestalten, die abgekämpft und sich in ihrer bunt zusammengestoppelten Winterbekleidung steckten, mit Mänteln und Pelzen aller Art, mit Decken, Halstüchern, feldgrau- grünem Kopfschutz, Wollzeug und unzulänglichem Schuhwerk. Diese plötzliche Begegnung und Gegenüberstellung zeigte mir mit einem Male, wie erschreckend tief wir heruntergekommen, und wie wenig wir auf diesen mörderischen Kampf vorbereitet gewesen waren.......

Gruß
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« Antwort #4 am: Mo, 08. Januar 2007, 14:51 »
Noch ein Auszug:

... Sich auch diesem unmenschlichen Befehl, dem Verbot der Kapitulation, gebeugt zu haben, ist der größte Vorwurf, den man der Armeeführung machen muß. Von ihnen kann sie auch kein an den Haaren herbeigezogener Hinweis auf angebliche militärischen Notwendigkeiten freisprechen. Es gibt einen Punkt, an dem man von keinem Soldaten mehr verlangen kann, noch bitterer, noch leidvoller, noch grauenvoller für die Fehler, - nein, nicht für Fehler, sondern für die Verantwortungslosigkeit und den grenzenlosen Hochmuth ihrer Führung zu büßen.

Diese Loyalität gegenüber Hitler, der die Armeeführung obendrein noch in einer Reihe und erträglicher, von nazistischen Phrasen überquellender Funksprüche Ausdruck verlieh, bleibt als ewiger Makel an ihr hängen.

Die Endkapitulation ist in Mansteins Memoiren irrtümlicher Weise um einen Tag vorverlegt: Sie erfolgte nicht am 1., sondern am 2. 2. 1943. Nachdem der in letzter Stunde zum Generalfeldmarschall beförderte Generaloberst Paulus bereits in den frühen Morgenstunden des 31. Januar entgegen seinen eigenen niemals aufgehobenen Durchhaltebefehlen für sich und seine Umgebung kapituliert hatte, ohne die weiter kämpfenden Reste seiner Armee mit einzubeziehen, wurde der sinnlose Widerstand im Nordkessel unter General Strecker fortgesetzt und erst am Nachmittag des 2. Februar endgültig beendet. Ich hebe das hier hervor, weil es damals auf jeden Tag ankam, denn jeder Tag kostete tausende von Menschen das Leben.

Stalingrad war keine normale Niederlage

Was die "Wiederherstellung der Lage" betrifft, von der Manstein spricht, so ist dieser Begriff natürlich nicht wörtlich im Sinne einer Zurückgewinnung der durch die russische Offensive verloren gegangene Position zu verstehen, wie es die oberste Führung ursprünglich allerdings tatsächlich gewollt hatte. Es handelte sich damals vielmehr darum, die Niederlage "unter den Fuß zu bringen", um dieses öfter von Manstein zitierte Schlieffen Wort zu gebrauchen, oder - deutlicher gesagt - die Front nach gelungener Zurücknahme der vom Feind schwer bedrängten Verbände, neu zu ordnen und zu festigen. Diese Aufgabe hat der Feldmarschall schließlich nach dem Verlust der 6. Armee inmitten anhaltender ernsthafter Bedrohung durch die mehrfache überlegenen Gegner in brillanter Weise gemeistert.

Aber keine auch noch so virtuose operative Truppenführung vermochte mehr auszugleichen oder vergessen zu machen, was sich an Ungeheuerlichem in Stalingrad ereignet hatte, keine noch so gewaltige strategische Berechnung vermochte mehr jene mannigfachen Auswirkungen moralischer und politischer Art aus der Welt zu schaffen, die sich aus der katastrophalen deutschen Niederlage an der Wolga ergaben. Es handelte sich dabei ihr nicht nur um den Verlust einer der besten und stärksten deutschen Armeen, mit der zugleich beträchtliche Teile der gesamten Heeres - Artillerie und der Heeres - Pioniere zugrunde gingen, nicht nur um den Untergang von rund 200.000 Menschen, eine Tragödie freilich schon für sich allein, die etwa eine Million Familien in allen deutschen Ländern und in Österreich betraf.

Die von Hitler herbeigeführte Katastrophe an der Wolga löste lawinenartige eine ganze Reihe sowjetischer Offensiven aus, in deren Verlauf auch zwei rumänische Armeen, eine Italienische und eine Ungarische vernichtet wurden. Binnen kurzer Zeit war damit die gesamte Masse unserer an der Ostfront eingesetzten Verbündeten vom russischen Kriegsschauplatz weggefegt. Berücksichtigt man noch die hohen Opfer, die mit der gescheiterten Entsatzoperation und den Verteidigungskämpfen an der blutig aufgerissenen Front verknüpft waren, so ergibt sich aus der Stalingrader Schlacht und den mit ihr zusammenhängenden Ereignissen die fürchterliche Bilanz eines Verlustes von vielen 100.000 Menschen. Der riesige, 1000 kilometerlange Frontabschnitt zwischen dem Terek und Woronesch war zusammengebrochen, und die Katastrophe hatte über 60 Divisionen und den Bestand einer ganzen Luftflotte verschlungen.

Und dies war keineswegs nur in Hinsicht auf den erheblichen Ausfall an Kampfkraft katastrophal. Die moralischen Auswirkungen der Niederlage auf die eigene Truppe und die Heimat einerseits und auf den in seinem Selbstvertrauen und Kampfwillen gestärkten Gegner andererseits, der die Initiative des Handelns an sich gerissen hatte, die Rückwirkung der Katastrophe auf die innenpolitische Lage und schließlich die außenpolitischen Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Wenn man bedenkt dass es um einen totalen Krieg ging, in dem gerade die in seelischen Faktoren ein entscheidendes Gewicht zukommen musste, dann wird man die Schlacht von Stalingrad doch als etwas durchaus Unerhörtes und über die bisherigen Maße des Geschehens Hinausgehendes, als den offensichtlichen Wendepunkt des letzten Krieges betrachten müssen.

Manstein sucht dies Ereignis, das zu den größten und schlimmsten Katastrophen der deutschen Geschichte gehört, eine Tragödie, mit der auch der Name Manstein verknüpft bleibt, unter vorwiegend strategischen Blickwinkel in seiner Bedeutung abzuschwächen, seines außergewöhnlichen Charakters zu entkleiden und als eine normale Niederlage hinzustellen, deren Auswirkungen durch geschickte Operationen gewissermaßen wieder wettgemacht worden seien.

In einem an General Olbricht gerichteten Brief vom 17. 5. 1943 brachte Goerdeler zum Ausdruck, was damals unzählige Deutsche zutiefst empfanden und was auch das spätere Urteil der Historie bestätigt hat: " Stalingrad und Tunis sind so schwere Niederlagen, wie sie in der deutschen Geschichte seit Jena und Auerstedt nicht zu verzeichnen verzeichnen sind. In beiden Fällen ist dem deutschen Volke gesagt, daß entscheidende Gründe verlangt hätten, Armeen zu opfern. Dass das unwahr ist, wissen wir: denn Soldat und Politiker können nur solche Opfer als notwendig vertreten, die auf anderen Gebieten einen das Opfer überwiegenden Erfolg verbürgen. In Wahrheit liegt unfähige und gewissenlose Führung vor.... "

Ist ein Todesurteil wie das von Stalingrad erlaubt?

Die tiefe menschliche und sittliche Problematik, die so viele von uns Stalingradkämpfern in Verzweiflung gestürzt hat, als sich der letzte Todesgang unserer ausgebluteten und längst nicht mehr ausreichend versorgten Armee im Januar 1943 ohne Abkürzung von höherer Stelle vollziehen musste, lässt sich in folgenden Fragen andeuten, um diese Fragen empfinde ich unter dem Eindruck der Lektüre Mahnsteins heute wieder mit der gleichen borhrenden Heftigkeit wie damals: Durfte ein so ungeheuerliches Maß unsagbarer Qualen, ein so lang hingezogener grauenvoller Todeskampf, die zunehmende Vergewaltigung der menschlichen Würde überhaupt vom Menschen anderen Menschen zugemutet und befohlen werden? War das befohlene Sterben von rund 200.000 Menschen nicht von vornherein schwer vereinbar mit dem Sittengesetz? Musste nicht ein wirklich kriegsentscheidender Nutzen mit einem so unerhörten Einsatz verbunden sein? Hätte nicht ein viel tieferes, umfassenderes Verantwortungsbewusstsein für das Todesurteil einer ganzen Armee bestimmend sein sollen? Durfte und konnte ein solches Riesenopfer dazu dienen, ein - vielleicht auf die Dauer gar illusorischisches - strategisches Gleichgewicht wiederherzustellen? Konnten Soldatsein und Menschsein, militärisches Denken und menschlich - sittliches Empfinden nicht in Einklang gebracht werden? Gab es keinen unter den Verantwortlichen der aus Einsicht mutig und zielbewusst zu Handeln bereit war, um das heraufziehende Verhängnis rechtzeitig aufzuhalten oder es abzukürzen, nachdem es unabwendbar geworden war?

Was in Stalingrad geschah erschienen mir nicht mehr vergleichbar mit einem jener traurigen Opfergänge, wie sie gelegentlich durch das harte Gesetz des Krieges gefordert werden. Der Passionsweg unserer Armee stellte - gerade wegen des langsamen, hilflosen Dahinsterbens von so vielen 10.000 in Verhältnissen, die den herkömmlichen Voraussetzungen soldatischen Einsatzes und soldatischer Ehre Hohn sprachen - alles bisher Dagewesene weit in den Schatten. Ein Stück Lebensubstanz des deutschen Volkes war hier zum Untergang verurteilt, und was in dieser Katastrophe gefordert und zugelassen wurde, bedeutete zuletzt eine maßlose Entartung, Erniedrigung und Schändung des menschlichen Wesens. Ich hatte am Ende der Schlacht das Empfinden, als sei ein gut Teil Menschlichkeit in den Massengräbern von Stalingrad mitversunken.....
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