Letzte Begegnung mit Paulus in Stalingrad

Begonnen von md11, Di, 22. März 2011, 19:30

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md11

Letzte Begegnung mit Paulus in Stalingrad

Am 26. Januar treffe ich Paulus, als er mit einigen Offizieren den Hof des Stadtgefängnisses verläßt. Er spricht mich an und gibt dabei zu verstehen, er habe gehört, daß einige daran dächten, den Kampf einzustellen. Für ihn gebe es aber nur eines: die Durchführung der strikten Befehle des OKH. Diese seien sicher nicht ohne Grund gegeben. Hier im Kessel könne man beim besten Willen nicht übersehen, welche Folgen das Nachlassen des Widerstandes auf die Gesamtentwicklung des Krieges haben werde, selbst wenn es sich dabei nur um einen Tag handele.

So verhärmt und seelisch angegriffen habe ich Paulus noch nie erlebt. Seine Gesten und sein Mienenspiel verraten große Nervosität. Ich bitte ihn dringend, sich präzis über die tatsächliche Entwicklung unterrichten zu lassen. Wir jedenfalls erhielten seit Wochen so gut wie keine genauen Angaben, weder über den Gegner noch über das Geschehen an den Flügeln. Die Improvisation sei längst zur Regel geworden. Nur die lähmende Ausweglosigkeit und bei den meisten sicher die Angst vor den Russen hielten offenbar Mannschaft und Offiziere an der Front noch zusammen. Nach meiner Überzeugung müsse man den Kampf sofort einstellen. Wenn jetzt der Gegner erneut zum Angriff anträte, drohe eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Ich könne zahlreiche Keller und Verliese nennen, die vollgepfropft seien mit Hunderten von Verwundeten. Was solle mit denen werden? Auch die Generale erwarteten wohl eine Entscheidung; offenbar wollten sie jedoch nichts über den Kopf des Oberbefehlshabers hinweg unternehmen.

Paulus hört sich alles ruhig an. Aber er bleibt bei seiner Auffassung. ,,Steidle, wir können nicht gegen die große Konzeption des OKH handeln." Und so gehen wir auseinander, ohne daß ich ahne, daß dies mein letztes Gespräch mit ihm bis zu jenem Tag im März sein soll, da wir uns als Kriegsgefangene in Susdal gegenüberstehen.

Kurz nach dieser Begegnung höre ich im Stadtgefängnis, Paulus habe, alarmiert durch die Kapitulation des Generals von Drebber, Kommandeur der 297. Infanteriedivision, und durch die Aufspaltung des Kessels in einen Nord- und einen Südteil, tatsächlich alle Generale gewarnt, auf eigene Faust zu kapitulieren. Schlömer und Daniels, die nach allgemeiner Ansicht hätten gewonnen werden können, seien nun wieder schwankend geworden. Schmidt habe noch einmit dem Kriegsgericht gedroht. Jetzt werde wohl alles beim alten bleiben. Jetzt gehe wohl das Abwarten weiter. Ich widerspreche heftig. Wieder in die Lethargie des Abzu verfallen sei Wahnsinn, sei verantwortungslos. Wir müßten handeln, notfalls die Generale vor vollendete Tatsachen stellen. Mit Daniels würde ich noch einmal selbst sprechen. Wichtig sei, ohne Verzug Verbindung mit den Russen aufzunehmen. Oberst Boje, Kommandeur des ebenaufgeriebenen Deutschmeisterregiments, erklärt sich bereit, in der kommenden Nacht eine Stelle in unserer Front zu suchen, wo er über die Linie gehen kann, ohne eigenen Beschuß fürchten zu müssen.

Nach dieser Unterredung gehe ich zu den Resten meines Regiments, die in zwei Räumen im ersten Stock des Gefängniskomplexes untergebracht sind. Dort liegen und stehen sie eng zusammengedrückt und hören gespannt auf das, was ich vorbringe. Sie sollten klaren Kopf behalten - so etwa sage ich - und sich nicht zu unüberlegten Schritten hinreißen lassen. Sich aufzugeben, Hand an sich zu legen komme überhaupt nicht in Frage. Es sei unbedingt notwendig, daß man zusammenbleibe, gleichsam als die letzten des Regiments. Denn das wären wir ja wohl. Jedenfalls sei mir nicht bekannt, daß sich noch woanders Versprengte von uns befänden. Sie könnten sich darauf verlassen, daß ich alles tun würde, um zu einer geordneten Kapitulation zu kommen. Ich sei überzeugt, daß die Russen das Völkerrecht respektierten. Man solle sich daher auf diese Zeit
vorbereiten und im gegebenen Augenblick irgendein Stück hellen Stoffs oder einen Strohsack zum Fenster hinaus-hängen. Vor allen Dingen aber komme es darauf an, Ruhe zu bewahren.

Das gleiche Thema erörtere ich dann noch einmal mit den Offizieren und Ärzten in Gegenwart der Mannschaften. In dieser Stunde besteht das Regiment noch aus elf Offizieren, zwei Ärzten, einem Veterinär und 34 Soldaten.
Trotz vieler mißtrauischer Gesichter geht doch ein Aufatmen durch den Raum. Für Augenblicke überhören wir das Rauschen der Granaten, die Einschläge und das Klirren der Scheiben. Von jetzt an versucht jeder, außerhalb des Gebäudes noch irgend etwas zu organisieren. In den zu Bruch gegangenen Bagagewagen oder auch bei den Gefallenen läßt sich manches finden.

In der Nacht bin ich dann noch einmal in den oberen Stockwerken, bei den Meldern, Sanitätern und bei Kameraden anderer Einheiten. Immer mehr Soldaten sind inzwischen in die schützenden Gebäude gekommen. Überall wird die Möglichkeit einer Kapitulation diskutiert. Am frühen Morgen wird unsere Situation kritisch. Oberst Boje hat seine Mission erfolgreich durchführen können: Mit Einbruch der Dämmerung sollen sowjetische Offiziere zu uns kommen, um über die Einstellung des Kampfes zu verhandeln. Aber fast zur selben Zeit, wie Boje zurückkehrt, erscheint ein Major, der sich im Auftrag der Armee ,,über die Lage orientieren" und wahrscheinlich auch erkunden soll, ob irgend etwas vorgeht, was gegen den strikten Befehl der Armeeführung, nicht zu kapitulieren, verstößt. Man versucht, ihn in Gespräche zu ziehen, die mit seinem eigentlichen Auftrag nichts zu tun haben, lenkt ab, weicht aus. Major Dobberkau aus Schierke merkt wohl, daß sein Auftrag nicht leicht auszuführen ist. Gegen meine Darstellung des Ernstes der Situation wendet er nichts ein. Unverrichteter Dinge will er aber anscheinend auch nicht zur Armee zurück, so vermeidet er jede weitere Frage und bleibt noch einige Stunden still und ruhig in seiner Ecke sitzen.
Eine innere Unruhe treibt mich am nächsten Morgen, den Oberbefehlshaber Paulus im Stalingrader Kaufhaus, wo sich der letzte Gefechtsstand der Armee befindet, aufzusuchen. Da der Kübelwagen nicht mehr einsatzfähig ist, mache ich mich mit meinem Fahrer zu Fuß auf den Weg. Unter starkem Beschuß geht es von einer Ruine zur anderen, von einer schützenden Häuserwand zu irgendeinem Kellerloch, bis wir endlich vor jenem Gebäude stehen, das mit seiner hochragenden und zerrissenen Fassade wie ein Symbol unseres Untergangs wirkt. Schon am breiten Eingang haben sich zahllose Soldaten schutzsuchend zusammengefunden. Ich fühle mich an die hastende Unruhe vor einem Zechentor nach einem Grubenunglück erinnert.

Und hier soll der Stab der Armee sein? Wo es doch gerade während des Feldzugs in der Sowjetunion üblich geworden ist, unsere - wenn auch kleineren - Bataillons- und Regimentsstäbe, wenn irgend möglich, abseits im freien Gelände zu verstecken! Allerdings befinden wir uns hier im Herzen einer großen Stadt, die sich 40 Kilometer an der Wolga dahinzieht. Um uns unübersehbare Trümmer- und Ruinenfelder - wie 1917/18 an der Somme, vor Amiens und im nordfranzösisch-belgischen Industriegebiet. Dort konnte man übrigens noch 22 Jahre später Ruinen des ersten Weltkrieges antreffen.
Wie lange würde es wohl dauern, bis hier an der Wolga neues Leben aufblühte?

geschrieben aus seinem Buch vom Luitpold Steidle "Entscheidung an der Wolga" (1969)

Kurze Biografie:
Am 1. Mai 1933 wurde er Mitglied der NSDAP und wurde nach kurzer Zeit wieder ausgeschlossen (Dokumente Familienarchiv, Bayreuth). Nachdem Steidle 1933 seine Anstellung verloren hatte, arbeitete er 1934 als Versicherungsagent. Im selben Jahre ließ sich der Leutnant der Reserve reaktivieren und trat in die Reichswehr ein. 1942 erfolgte seine Beförderung zum Oberst. Als Regimentskommandeur geriet er 1943 im Kessel von Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft. In der Kriegsgefangenschaft zählte er zu den Gründern des Bundes Deutscher Offiziere, dessen Vizepräsident er wurde. In Abwesenheit wurde Steidle deshalb im Deutschen Reich zum Tode verurteilt. Sein Memoirenband Entscheidung an der Wolga (1969) schildert diesen Weg.

mfg
Josef

adrian

Lieber Josef,

sag mal, kennst Du auch vom Paulus eine Erinnerung an seine Zeit im 3. Reich bzw. in der nach der
Kriegsgefangenschaft in der DDR verbrachten Zeit. Ich habe den "Schweren Entschluss" von paulus Adjutanten
Wilhelm Adam gelesen, was leider zum Schluss nicht mehr objektiv gewesen zu sein scheint.

Gruß
Werner
Suche alles zur 60. Inf.Div. (mot.) (Danziger Division) bis Stalingrad

md11

Hallo Lieber Werner,
das Buch vom Adjutanten Wilhelm Adam habe ich vor zwei Wochen gekauft für 2.-Euro nur.Hab es nur durchgestöbert aber ich werde es auch noch durchlesen.Es muß sehr interessant sein.
Werde mich mit dem Thema mich noch hier befassen.
Danke

Liebe Grüße
Josef