Die unbekannte deutsche Mutter

Begonnen von Thomas, Mo, 20. Februar 2012, 22:24

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Thomas


Die unbekannte deutsche Mutter

Zwei Jahre nach Waffenstillstand wurde in München eine Ruine abgetragen. Als man durch die Trümmer in den Keller vordrang, erkannten die Arbeiter, daß er durch ein Rohrbruch der Wasserleitung  in der Unheilsnacht überschwemmt worden war.
Sie zogen Skelette aus dem dunklen Gelass, und hinten, wo die Decke gehalten hatte, erblickten sie, erschauernd, ein ungeheuerliches Bild. Da stand das Gerippe einer Frau, an die Wand gelehnt, und hielt in den noch hoch emporgereckten
Armen das Gerippe eines Säuglings über den Kopf hinaus; unbegreiflich, daß dies noch möglich war aber so stand wirklich das Knochengerüst der Mütter und trug ihr Kind. Als das Wasser in den Keller flutete, hatte sie, des eigenen Todes gewiß, nur ein Gedanken, ihr kleines zu retten, und so reckte sie es in die Höhe. Ihr Wille war mächtig genug, daß ihr Körper das Kind noch hielt, als sie selbst ertrank, und immer noch hielt jahrelang, bis die Arbeiter eindrangen. Das Kind hatte denselben Tod gefunden, denn Gott ist unfassbar in der Liebe, aber auch im Schrecken, und das Opfer der Mutter blieb vergeblich. Obgleich dies großartige Bild, als die frische luft es berührte, mit beinernen Klirren plötzlich zusammenfiel zu einem Häuflein Knochen und Lumpen, bleibe es uns dennoch aufgerichtet vor den Augen für die Zukunft: eine gekreuzigte Mutter,
deren hochgereckte Arme das Kind im Tode noch halten, um es zu retten. Niemand wusste ihren Namen mehr.
Es ist die unbekannte deutsche Mutter des letzten Krieges.

Quelle: Aus dem Buch "Den Gefallenen" herausgegeben vom Volksbund
Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.
Immanuel Kant