Autor Thema: Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914  (Gelesen 6058 mal)

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Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« am: So, 31. Dezember 2006, 21:03 »
Hallo an Alle!
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es ist noch Weihnachten und deshalb schreibe ich diese Story hier rein.
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-Singen mit dem Feind-
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Der Frieden der kleinen Leute begann Tage zuvor mit friedenstiftenden Maßnahmen. Bei Armentieres etwa, kurz hinter der belgischen Grenze, Die Sachsen hatten nicht wie üblich ein paar Handgranaten in die gegnerische Stellung geschleudert, sondern im hohen Bogen einen gut verpackten Schokoladenkuchen. Ein Zettel steckte im Teig. Ob es nicht machbar sei, am Abend zwischen 19.30 und 20.30 Uhr eine Waffenruhe einzuhalten. Ihr Hauptmann habe Geburtstag, man wolle ihm ein Ständchen bringen. Die Bitte wurde erfüllt. Engländer standen auf den Deckungen ihrer Gräben, hörten der Musik der Kaiserlichen zu und klatschten sogar Beifall. Damit nicht aus Versehen etwas schief ging, schossen die Deutschen nach etwa einer Stunde ein paarmal in die Luft, um das bevorstehende Ende der Party anzukündigen.
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Eine Woche vor Weihnachten waren Tausende von kleinen Tannenbäumen ins Hinterland der deutschen Stellungen geliefert worden. Von den Versorgungsgräben wurden sie aber Laufgräben direkt in die vordersten Linien geschafft. Rechtzeitig zum Christfest. Viele fertig zum Gebrauch. Kerzen bereits an den Zweigen. Die mussten nur noch im passenden Moment angezündet werden.
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Zwischen Basseville in der Nähe von Warneton und St. Yvon liegen sich die ist Royal Warwickshires und die 2. Kompanie des Königlich-Sächsischen Infanterie-Regiments 134 gegenüber. In den vergangenen Nächten hatte es fast ununterbrochen Gefechte gegeben. Bei einem Angriff waren die Engländer bis an die Drahtverhaue vor den deutschen Stellungen herangekommen, dort wurden sie gestoppt. Sechshundert Tote und Verwundete. Der Schützengraben wird von den Deutschen trotzdem aufgegeben. Zu viel Schlamm, zu viel Wasser, tagsüber wird deshalb ein neuer gegraben, auch am 22. und 23. Dezember. Rechtzeitig am Abend vor Weihnachten konnten die Sachsen ihr neues unterirdisches Quartier beziehen. Sie bauten einen Gabentisch auf. Nüsse, Äpfel, Pfefferkuchen und Stollen. Leutnant Kurt Zehmisch hielt eine kurze Ansprache, bevor die Wachen auf ihre Posten gingen.
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In der Ruine einer ehemaligen Zuckerfabrik hören er und seine  Männer am nächsten Nachmittag,
als es dunkel ist, der Musikkapelle des Regiments zu, dann singen sie „Dies ist der Tag, den Gott gemacht", Leutnant Zehmisch, im zivilen Leben Studienrat am Gymnasium in Planen, befiehlt seinen Männern nach der Messe, dass „heute am Heiligen Abend und an den Weihnachtsfeiertagen kein Schuss von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist".
Drüben bei den Engländern bleibt es am Abend des 24. Dezember ebenso ruhig. Zehmisch: „Kaum hatten wir den Schützengraben besetzt, da suchen wir uns  gegenseitig bemerkbar zu machen." Die Sächsischen pfeifen auf zwei Fingern. Es wird sofort zurückgepfiffen, nicht zurückgeschossen. Zehmisch spricht gut Englisch, außerdem Französisch. „Soldat Möckel von meinem Zug, der mehrere Jahre in England gewesen war, und ich rufen die Engländer auf Englisch an, und bald hatte sich zwischen uns eine ganz spaßige Unterhaltung entwickelt."
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Er schlägt den Gegnern vor, die ja kaum hundert Meter von seiner Kompanie entfernt eingegraben sind, sich auf halbem Weg im Niemandsland zu treffen. Die Soldaten Möckel und Huss, der ebenfalls gut Englisch spricht, klettern über die Deckung, kriechen durch die Drahtverhaue, überwinden den Stacheldraht. Von drüben kommen ihnen, noch geschützt in einem Weidegraben, zwei Engländer entgegen. In den Schützengräben hüben wie drüben sind alle gespannt, wie es weitergeht. Die vier Männer hatten sich gegenseitig auf Zuruf versichert, unbewaffnet zu sein.
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„Endlich kam der eine Engländer aus dem Gra ben, nachdem sich die vier Leute andauernd angerufen hatten, und hielt beide Hände hoch. In der einen Hand hielt er die Mütze voller englischer Zigaretten und Tabak", dann schüttelte er den beiden Deutschen die Hände und wünschte ihnen „A Merry Christmas". Die erwiderten den Gruß, ebenfalls mit „Merry Christmas". „Da klatschten die Engländer in dem Schützengraben und wir in die Hände und riefen begeistert ,Bravo`. Sie tauschten nun die Zigaretten gegen Zigarren und zündeten sich welche an, woraus sich auch eine längere Unterhaltung entwickelte."
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Der Deutsche berichtet im zweiten Band seiner Tagebücher weiter, dass anschließend „allgemeines Gebrüll aus beiden Gräben" begonnen habe. Ein friedliches. „Merry Christmas" und frohe Weihnachten und „1 wish you the same" und außerdem ein gutes neues Jahr. Vor allem aber ist hörbar das gegenseitige Versprechen, heute und morgen nicht zu schießen. „Dann verabschieden sich die beiden Parteien Händedruck und kehrten in ihre Schützengräben zurück ... Jetzt stellten wir auf unserem kilometerlangen Schützengraben noch mehr Kerzen auf als vorher. Es war die reinste Illumination ... An einigen Stellen waren auf die Brustwehr Tannenbäume mit brennenden Kerzen gestellt, worüber die Engländer ... durch Zurufe und Händeklatschen ihre Freude ausdrückten ... Ich war wie die meisten meiner Leute die ganze Nacht hindurch wach. Es war eine wundervolle, wenn auch etwas kalte Nacht."
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Die Geschichte von nächtlichen Annäherungen zwischen den Fronten verbreitet sich durch alle Gräben. Sie wird in Eigenregie fortgesetzt und in Tausenden von Briefen nach Hause detailliert beschrieben.
Josef Wenzl vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 16 berichtet am 28. Dezember 1914 seinen Eltern in Schwandorf: „Es klingt kaum
glaubhaft, was ich euch jetzt berichte, ist aber pure Wahrheit. Kaum fing es an Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu, was unsere Leute erwiderten. Allmählich gingen sie ganz heraus aus den Gräben, unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken. Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen. Was ich vor ein paar Stunden noch für Wahnsinn hielt, konnte ich jetzt mit ei genen Augen sehen ... Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden ... Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich bleiben."
Josef Wenzl fiel am 6. Mai 1917. **.
« Letzte Änderung: Fr, 18. Juni 2010, 22:49 von Adjutant »

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Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« Antwort #1 am: So, 31. Dezember 2006, 21:06 »
Jack Reagan trägt einen Hocker nach draußen und bietet der Laufkundschaft seine Dienste an. Es wäre auch im normalen Leben für einen Friseur ungewöhnlich gewesen, auf einem Trottoir in London oder Manchester zu stehen und da seinen Beruf auszuüben, den Kunden unter freiem Himmel statt im Salon die Haare zu schneiden oder den Bart zu stutzen. Aber auf einem gefrorenen Acker vor dem englischen Schützengraben bei Wez Macquart, zwischen Stacheldrahtzaun und Granattrichter, ist es einfach verrückt.

Hauptmann Josef Sewald vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 17 sieht es ebenso. Man möge sich das mal vorstellen, schrieb er nach Hause, wir sind schließlich im Krieg!, am ersten Weihnachtstag habe es einen Friseur gegeben, der tatsächlich fürein paar Zigaretten pro Soldat, völlig wurscht, woher der kam, von seiner oder der anderen Seite, die Haare gekürzt hat. Mehr noch. Viele Feinde schnitten sich gegenseitig die Haare, was ein noch merkwürdigeres Bild ergab, denn einen Hocker wie Reagan hatten sie ja nicht.

Also knieten die einen vor den anderen, bunt gemischt die Reihe, Dutzende von jungen Männern, die beim Einschäumen und Rasieren und beim lustvollen Zertreten von Läusen in den fallenden Haarbüscheln laut lachten. „Es war keine Spur von Feindschaft zwischen denen", und würde er es nicht selbst gesehen haben, niemals hätte Sewald so etwas für möglich gehalten.

Den ganzen 25. Dezember über hat es ähnlich wahnsinnige Szenen und absurd anmutende Begegnungen an der Westfront in Flandern gegeben, bei Houplines und St. Yvon, bei Messines und Ploegsteert, in Wijtschate und Warneton, bei Frelinghien und Armentieres, in Fleurbaix und in Le Touquet.

Bruce Bairnsfather lässt sich zu einem Cartoon anregen, der ein halbes Jahr später im Magazin „The Bystander" erscheint. Da sitzt einer auf Reagans improvisiertem Friseurstuhl, der Engländer stutzt ihm die Haare. Unterschrift: „Halt still, sonst schneide ich dir dein verflixtes Ohr ab."
In der rauen Wirklichkeit des ersten Weihnachtstages waren beim Rasieren unter den Männern rauere Bemerkungen gefallen als die von Bairnsfather erdachten. Scherze etwa in der Richtung, dass Tommy mit einem sauberen Schnitt durch die vom Schaum bedeckte Gurgel des Jerry einen Gegner weniger haben würde, umgekehrt natürlich auch, falls der Krieg weitergeht. Darüber haben sie alle laut gelacht.

Unmittelbar noch in der Nacht davor hatten manche Tommys manch andere Pläne, wollten mit Gesang die Jerries sozusagen einschläfern, sie friedlich stimmen, in Sicherheit singen und dann zuschlagen, wie es so hinterlistig angeblich nur deutscher Art entsprach. Schütze Ernest Morley hält es im Prinzip für eine erlaubte Kriegslist, als er davon am 29. Dezember 1914 seinen Eltern berichtet, dass sie sich eigentlich entschlossen hatten, den Deutschen an Weihnachten „drei Choräle zu präsentieren, dann fünf Runden Feuer". Nach Einbruch der Dunkelheit begannen sie mit , While Shepherds Watched their Flocks by Night", was drüben gut ankam, denn es war laut Morley in der Tat „sehr schön von unserem Chor gebracht". Sie machten eine kurze Pause vor dem nächsten Lied. „Aber, welche Überraschung, wir hörten aufsteigenden Gesang, sozusagen die Antwort aus
ihren Gräben. Dann begannen sie zu uns herüberzurufen. Deshalb stoppten wir die Vorbereitungen für Runde zwei, die Feindseligkeiten. Sie riefen A Merry Christmas, English, we are not shooting tonight.` Wir riefen eine ähnliche Botschaft zurück."

Auf solche freundlichen Feinde, die sogar ihre Nationalhymne mitsangen, mochten sie nicht mehr schießen. Deshalb ist auch Ernest Morley am Christmas Day unter denen, die sich auf den Weg nach draußen machen.

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Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« Antwort #2 am: So, 31. Dezember 2006, 21:09 »
Einige Offiziere, deutsche vor allem, versuchen, ihre Männer mit Waffenreinigen zu beschäftigen oder damit, die Stacheldrahtverhaue zu verstärken, um sie so von weiteren Fraternisierungen abzuhalten.
Aber sie haben keine Chance. Denn jetzt wird Fußball gespielt im Niemandsland. Als Torpfosten dienen entweder ein paar Holzstücke oder aber Mützen und Pickelhauben. Woher die Bälle plötzlich kommen, ist meist nachprüfbar. Von den Briten. „Wir schickten einen mit dem Fahrrad nach hinten in unsere Reservestellung, und der holte den Ball", erzählte Harold Bryan von den Scottish Guards in einem Brief an seine Eltern.

Hunderte spielten Fußball zwischen den Fronten, es wird gebolzt und gekickt, und wenn einer in den Dreck fällt dabei, denn in Uniform und in Stiefeln lässt sich nun al schwer elegant spielen, hilft ihm sportlich der Gegner, der ein Feind ist, wieder auf die Beine.
Wo kein Ball aufzutreiben war, tut es ein zurechtgepresstes Stück Stroh, umwickelt mit Draht, den es zuhauf gibt. Und wenn es auch dafür nicht reicht, muss es halt eine leere Konservenbüchse tun. Wie die Kinder rennen sie hinter ihren seltsamen Fußbällen her. Angefeuert von denen, die auf den Tribünen sitzen, ihren Brüstungen, und zuschauen.

Bei Wulvergern sind es die Schotten, die plötzlich mit einem echten Ball aus den Gräben klettern. Einem Lederball. Sie markieren ihr Tor mit dem, was sie auf dem Kopf tragen. Mit ihren Mützen. Die Sachsen vom Regiment 133 gegenüber nehmen ihre Pickelhauben. Man habe sich streng an die Regeln gehalten, berichtet einer von den deutschen Mitspielern, denn sie hatten keinen Schiedsrichter dabei. Es dauert etwa eine Stunde, dann sind alle Spieler erschöpft. Es macht sich bemerkbar, dass sie in den vergangenen Tagen nur wenig Schlaf bekommen hatten, was normal war zu Kriegszeiten, wie der englische Soldat John Lucy schon nach ein paar Wochen Stellungskrieg geschrieben hatte: „Unser Geist und unser Verstand schrien nach Schlaf ...

Jede Zelle flehte nach Ruhe, und dieser eine Gedanke war der dauerhafteste im Kopf." Der Boden ist gefroren und von Rissen durchsetzt und erlaubt kein genaues Zuspiel. „Viele Pässe landeten weit im Aus." Immerhin, sie spielten. Denn die meisten der für heute abgemachten Fußballspiele können nicht wie gestern geplant stattfinden. Gerade auf Fußball hatten sie sich besonders gefreut. Die einen schaffen es
' nicht, rechtzeitig einen Ball heranzuschaffen. Bei anderen verhindern die Offiziere ', ein Match, verbieten den Spaß im Niemandsland oder brechen ein Spiel ab. Krieg sei nun mal kein Spiel. Krieg sei eine ernste Sache. Doch trotz aller Hindernisse und trotz aller Probleme wird am Boxing Day gebolzt.

Am Ploegsteert-Wald ruhte der Krieg bis Ende Februar. Pause heißt Dienst nach Vorschrift in den Gräben, keine Treffen im Niemandsland, denn das würde auffallen, andererseits möglichst alle Treffer vermeiden, solange es nicht auffällt. Gustav Riebensahm vom a. Westfälischen denkt nicht wie die Mehrheit, als er in sein Tagebuch einträgt: „Die Engländer sind außerordentlich dankbar für den Waffenstillstand, weil sie endlich mal wieder Fußball spielen konnten. Aber das Ganze wird langsam lächerlich und muss beendet werden. Ich werde mit dem 55. ausmachen, dass heute
 Abend Schluss ist."

Quelle-Michael Jürgs über die Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914

Gruß
Josef

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Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« Antwort #3 am: So, 31. Dezember 2006, 21:15 »
Dazu paar Bilder noch.
Bild 1.Weihnachtsfeier deutscher Soldaten 1914

Bild 2.Sächsische und britische Soldaten in Flander 1914

Bild 3.Deutsch-britisches treffen (Illustration 1915)

Gruß
Josef
« Letzte Änderung: Fr, 18. Juni 2010, 22:49 von Adjutant »

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Re: Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« Antwort #4 am: Mo, 03. Dezember 2007, 19:48 »
Hallo,
Weihnachten steht vor der Haustür!Deswegen schreibe ich noch einen Auszug aus dem Buch hier rein.Es ist eine sehr schöne Geschichte von damals.

Denn an diesem Weihnachten herrscht »auf beiden Seiten eine Stimmung, dass endlich Schluss sein möge. Wir litten doch alle gleichermaßen unter Läusen, Schlamm, Kälte, Ratten und Todesangst,begründete der britische Veteran Reginald Thomas die allgemeine Kriegsverweigerung noch sechzig Jahre später, als er knapp dreiundneunzigjährig seine ganz persönlichen Erlebnisse an Christmas 1914 zu Protokoll gab. Thomas ist längst tot.

Seine Stimme hat ihn überlebt. Die Berichte derer, die in jenen Gräben lagen, aus denen zuerst die Friedensbotschaften erklangen, sind archiviert im Imperial War Museum in London. Ein deutscher Freiwilliger, ein Student namens Rickmer, erzählt mit stockender Stimme von einem gemeinsamen Weihnachtsfest mit Franzosen. Auch diese Stimme kommt vom Tonband: »Wir tranken im Niemandsland Champagner, wir rauchten und wir unterhielten uns. Es war eine Verbrüderung im gemeinsamen Gefühl, den Krieg endlich beenden zu müssen. Die Generäle erfuhren erst danach davon und taten fortan alles, dass so etwas nie wieder vorkommen könne.

Am Himmel, über den Stellungen, führten englische, deutsche, französische Piloten noch einen anderen Krieg als den auf Erden. Einen sportlichen Wettkampf wie einst die Ritter von König Artus' Tafelrunde. Allerdings mit tödlichem Ausgang für den Verlierer. Wer getroffen war, schmierte brennend ab. Andere Flieger ließen eigenhändig Bomben fallen, deren verheerende Wirkung man bislang nicht kannte. Dennoch kamen, zum Beispiel einen Tag vor Weihnachten, auch friedliche Botschaften vom Himmel hoch. Da tauchte ein deutsches Flugzeug über Dünkirchen auf. Warf einen beschwerten Brief ab für einen französischen General mit der Mitteilung, wo sein gefallener Sohn in allen Ehren bestattet worden sei. Und die Nachricht eines Franzosen für seine Familie, dass er zwar abgestürzt sei, aber den Abschuss überlebt habe und sich in Gefangenschaft befinde. Angeblich stand in einem Nachsatz sogar ein Gruß der Besatzung, die dem ganzen französischen Volk ein frohes Weihnachtsfest wünschte. Falls es stimmt, dürfte es sich wohl eher um blanken Zynismus gehandelt haben.

Im Dezember 1914, wenige Monate nach jenen Bank Holiday, war die Saat der Hassgesänge, der gnadenlosen Propaganda, der Gräuelgeschichten über tatsächliche und angebliche deutsche Verbrechen aufgegangen. Fest stand die Heimatfront hinter Lord Kitchener's Army, obwohl deren Verluste inzwischen so gewaltig waren, dass die britischen Zeitungen aus Platzgründen aufhören mussten, wie gewohnt täglich die Liste der Gefallenen zu veröffentlichen. An der Front in Flandern fern der Heimat haben die Soldaten zwar den Krieg satt, wünschen sich Frieden, doch sie glauben nicht daran, haben zu viele Freunde schon sterben sehen.

Doch wieder passiert eine jener unglaublichen kleinen Geschichten.

Denn es erhebt sich, nicht weit entfernt von den schimmernden Kerzen, die Stimme eines einzelnen Mannes, »stark und rein und klar«, der in perfektem Englisch das Lied von „Annie Laurie“ singt, als weiteres Weihnachtsgeschenk an die noch ungläubigen Gegner. Ein Lied, das in England jedes Kind kennt: »and for bonnie Annie Laurie  I'll lay down my head and die...«, ein Lied, das die Herzen berührt, und weil es von einem Feind gesungen wird, von einen Deutschen, erst recht. Es schwindet Strophe für Strophe die Sorge, in eine Falle gelockt zu werden. Christmas Eve entpuppt sich als ein magischer Moment.

Diese Szene hat Schütze W .A. Quinton fünfzehn Jahre später in seinen Erlebnisberichten von den Kämpfen bei Fleurbaix in allen Details geschildert, er hat »Arnne Laurie« nie vergessen können: »Wir waren wie erschlagen, als ob der Krieg plötzlich aufgehört hätte.« Und der sächsische Offizier Georg Reim, der so blumig die Welle des Gesangs in der Schulterwehr beschrieben hat, vertraute seinem Tagebuch an, alle Gedanken an Kampf, an Hass der Völker seien plötzlich vergessen gewesen. »Wir fühlten uns dabei glücklich wie die Kinder.«

Ein englischer Kanonier von der London Rifle Brigade empfindet zwar ähnlich, glaubt allerdings, die drüben seien verrückt geworden. Sogar Petroleumlampen statt Kerzen halten die Deutschen hoch, sich selbst beleuchtend, unter normalen Verhältnissen ein freiwilliger Abschied vom Leben. Eine Einladung für Scharfschützen. Ein Mann aus seiner Kompanie scheint ebenfalls verrückt zu sein. „One of the nuts belonging to the regiment got out of the trench and started to walk the towards the German lines“ - dieser Irre, der einfach über die Brüstung klettert und Richtung deutscher Linien geht, trifft inmitten des Niemandslandes auf einen Deutschen.

Ist jener Irre vielleicht der Schütze Turner? Er gehört zu den London Rifles. Turner ist kurzsichtig. Heute Nacht macht das nichts, der Mond ist hell genug, und es reicht, den anderen als Schatten zu erkennen. Hat er Angst, als er sich auf Niemandsland wagt, dass auf ihn geschossen wird, dass die Kameraden Recht hatten, die ihn vor den Deutschen warnten? Mag sein. Man wird es nie erfahren. Immerhin ist sicher, dass Turner den Ausflug ins Niemandsland überlebt hat und sicher zurückgekehrt ist.

Denn Schütze Turner wird morgen Geschichte schreiben, und das wiederum ist belegbar. Er nimmt am ersten Weihnachtstag seine Pocket Camera mit ins Niemandsland und wird zum Beispiel jenes Foto machen, das auf dem Cover dieses Buches gedruckt ist. Ein Foto, das auf einen Blick den wunderbaren Frieden sichtbar macht. Turner fotografiert zwei Deutsche und zwei seiner Kameraden. Die vier stehen zusammen und blicken auf ihn, auf Turner.

« Letzte Änderung: Mo, 03. Dezember 2007, 20:14 von md11 »

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Re: Verbrüderung an der Westfront Weihnachten 1914
« Antwort #5 am: Mo, 03. Dezember 2007, 19:51 »
Haben sie den Krieg überlebt, hat er ihn überlebt?

Die Stimme des Mannes, der den Briten das vertraute Lied einer verlorenen Liebe im Schottland des 17. Jahrhunderts gesungen hatte, jene Ballade von Annie Laurie, ist erneut zu hören. Er singt nicht mehr, er ruft: »Ich bin ein Leutnant, Gentlemen, mein Leben liegt in Ihrer Hand. Ich bin schon außerhalb der Gräben und gehe auf Sie zu. Würde bitte einer Ihrer Offiziere kommen und mich auf halbem Wege treffen?« Keine Antwort. Ein englischer Sergeant, der sich spontan hatte aufmachen wollen, wird von seinem Vorgesetzten barsch zurückbeordert.

Der aus dem Dunkel gibt nicht auf. Ob nicht doch jemand kommen wolle, er habe etwas Wichtiges zu besprechen. »Dreißig Ihrer Landsleute liegen tot vor unseren Gräben im Niemandsland. Ich will für morgen ihre Beerdigung arrangieren. Ich bin allein und unbewaffnet.« Jetzt ist der Mann zu erkennen, der zur Stimme gehört. Hundert Gewehre sind auf ihn gerichtet. Da klettert der Brite, der schon einmal, gerade eben, die Gräben hatte verlassen wollen, über die Brustwehr und den Stacheldraht, kein Befehl kann ihn noch stoppen, und geht auf den Deutschen zu. Sie treffen sich auf halbem Weg. Reden miteinander. Die Schussbereiten senken die Waffen.

Als er zurückkehrt, bringt er einen Packen deutscher Zeitungen mit, denn er und ein paar Kameraden beherrschen die Sprache des Gegners, und er hat für den nächsten Tag das Abkommen getroffen, die seit Wochen ungeborgenen Toten zu beerdigen. Als Zeichen ihres guten Willens, berichtet er, wollten die Deutschen, präzise um neun Uhr morgen früh, aus ihren Gräben klettern. Nur mit Spaten und Schaufeln bewaffnet.

Denn wie hier auf den Äckern bei Fleurbaix liegen überall an der Westfront Leichen sichtbar im Niemandsland. Darunter Männer aus jenen fernen Ländern unter britischer Verwaltung, Kolonien des Commonwealth, in denen das christliche Fest Weihnachten unbekannt ist. Auch sie »dürfen wir nicht vergessen«, steht in den Aufzeichnungen des 7. Westfälischen Infanterieregiments Nr. 50, »die toten Söhne Asiens, die mit ihren kleinen Gestalten und gelben Gesichtern überall zwischen den Linien liegen, bis sie begraben werden können.« Der Offizier, der das schrieb, fast ein Poet, ergänzt seine Bestandsaufnahme: »Viele tote Hindus lagen noch lange im Zwischengelände, und der Winterwind spielte mit den schwarzen Bärten und grauen Turbantüchern.«

Ein paar Kilometer westlich von Fleurbaix leuchten nicht nur Kerzen auf den Gräben. Englische Soldaten trauen ihren Augen kaum, als sie in dieser Nacht einen Blick über ihre Deckung riskieren. Auf den gegnerischen Befestigungen stehen kleine beleuchtete Tannenbäume, manche zusätzlich mit Laternen geschmückt. Die wurden später abgenommen, und mutige Jerries trugen sie wie einen Stern vor sich her, als sie aufbrachen ins Niemandsland. Einige Riflemen plädieren ungerührt dafür, denen die Lichter auszupusten, einer fängt gleich an, doch nach diesem ersten Schuss rufen sie von drüben in really good English,man möge doch lieber miteinander reden als aufeinander schießen. Das entspricht eher ihren Gefühlen. Und denen der anderen offenbar auch.

Im Niemandsland treffen sie sich. Eine kleine Gruppe. Sie wird von ein paar Taschenlampen beleuchtet, falls einer es wagen sollte, eine falsche Bewegung zu machen, aus der Entfernung sind nur Sprachfetzen zu hören. Ab und zu dröhnt Gelächter. Sie scheinen sich zu verstehen. Nach etwa einer halben Stunde gehen alle wieder, jetzt unter stürmischem Beifall von den verschiedenen Ringen, zurück in ihre Gräben. Für den morgigen Tag haben auch sie abgemacht, erst einmal die Toten zu beerdigen, die im Niemandsland liegen. Deren Anblick lastet allen schwer auf dem Gemüt. Als würden sie täglich mit ihrer Zukunft konfrontiert.

Hinten irgendwo, nicht erkennbar sind die Sänger, aber hörbar, stimmen Tommys die englische Nationalhymne an. Sie wird von den Sachsen lautstark beklatscht. Dann verlangen die Applaudierenden „It’s  a Iong way to Tipperary“, ihr Wunsch wird erfüllt. Ein Stück weiter sind es Hannoveraner, die den ersten Schritt ins Ungewisse „vagen. Sie kündigen nach dem jetzt mehr und mehr wohl doch gültigen Ruf » We not shoot, you not shoot« sogar ein Geschenk an. Es ist ein Weihnachtsbaum mit bereits entzündeten Kerzen. Ein Bote stellt ihn vor die englischen Linien. Es fällt kein Schuss. Als die Briten den Baum in die eigenen Unterstände holen, entdeckt einer an einem Zweig einen Zettel mit dem Vorschlag, einen weihnachtlichen Waffenstillstand zu beschließen. Man könne sich zum Aushandeln der Bedingungen doch auf halbem Wege treffen. Auch hier erleuchtet der Strahl einer Taschenlampe wie ein Spotlight die Bühne. Auch hier wird die morgige Aufführung, besprochen.

Wie gut, dass in dieser Gegend keine preußischen Regimenterhegen. Die wurden wegen ihrer gnadenlosen Kriegslust selbst von den eigenen Leuten lieber gemieden. Die hätten keinem Waffenstillstand zugestimmt. Auch manche württembergischen Einheiten zeichneten sich aus durch stures Preußentum. Das lässt sich wörtlich belegen.

Oberleutnant Albrecht Ludwig Volz vom 8. Württembergischen Infanterieregiment Nr. 120, der im Wald voll Herenthage den Franzosen gegenüberliegt, freute sich in seinem Tagebuch, er habe eine »Gruppe französischer Offiziere, die plaudernd und Zigaretten rauchend einige hundert Meter hinter ihrer Stellung auf einer Waldschneise promenierten, eine Weile beobachtet, dann eilte Entscheidung getroffen. Dieses nach unserer Ansicht unpassende Benehmen korrigierte eines unserer rasch herbeigeholten Maschinengewehre überraschend schnell. Damit hatte der Frieden ein jähes Ende.« Volz war voll Beruf Oberförster.

mfg
Josef
« Letzte Änderung: Fr, 18. Juni 2010, 22:48 von Adjutant »

 


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