Autor Thema: Der Tod einer Stadt  (Gelesen 2441 mal)

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Der Tod einer Stadt
« am: Do, 26. Juli 2007, 20:54 »
Die nach den deutschen Luftangriffen ausgebrochenen Brände wüteten die ganze Nacht hindurch, und am nächsten Morgen schien die Sonne über einer verwüsteten Stadt. In den letzten zwei Monaten hatte es kaum geregnet, und die hauptsächlich aus Holz gebauten Häuser in den Vororten waren in Flammen aufgegangen, so daß dort in ganzen Straßenzügen nur noch die gemauerten Kamine wie unzählige Grabsteine standen.

Im Stadtzentrum und in den Industrievierteln, in denen die Gebäude massiver waren, wirkte auf den ersten Blick vieles normaler, aber dann zeigte sich, daß hinter manchen Fassaden nur noch ausgebrannte Ruinen lagen. Mehrere Öltanks waren brennend geplatzt und hatten ihren Inhalt in die Wolga ergossen, wo das brennende Öl einen stromabwärts treibenden Teppich bildete. Die Kaianlagen und viele der dort liegenden Binnenschiffe waren in Flammen aufgegangen. Das Telefonnetz funktionierte nicht mehr, weil die hölzernen Telegraphenmasten verbrannt waren, und selbst der Asphalt der Straßendecken war in Brand geraten. Das Wasserleitungsnetz war frühzeitig durch Bombenangriffe zerstört worden, so daß die Feuerwehr in den meisten Fällen nur hilflos zusehen konnte, wie Gebäude niederbrannten.

Wegen der Nähe der vorgeschobenen deutschen Feldflugplätze konnten die Bomber jeweils mehrere Einsätze fliegen, so daß Stalingrad an diesem Tag von rund 2000 Maschinen bombardiert worden war. Am Morgen des 24. August 1942 lag die Stadt in Trümmern, und Tausende von Stalingradern waren im Bombenhagel umgekommen. Obwohl nach dem Krieg von vielen deutschen Autoren behauptet wurde, die Luftangriffe hätten rein militärischen Zielen gegolten, hatte es sich in erster Linie um einen Terrorangriff gehandelt. Natürlich behinderte Trümmerschutt auf den Straßen die Verlegung von Jeremenkos Reserven zu gefährdeten Frontabschnitten, und natürlich bestand theoretisch die Möglichkeit, das sowjetische Hauptquartier durch einen Bombentreffer auszuschalten, aber in Wirklichkeit standen in der Stadt nur wenige Truppen, weil die meisten in den Verteidigungsgürteln um Stalingrad eingesetzt waren.

Die Erfahrungen der westlichen Alliierten bei Monte Cassino und in Caen zeigten später, daß die Zerstörung großer Gebäude einen entschlossenen Verteidiger begünstigen kann, indem sie die Angreifer behindert, und aus dieser Sicht war die deutsche Bombardierung Stalingrads ein Fehler. Man fragt sich unwillkürlich, wie der Kampf ausgegangen wäre, wenn die Luftflotte 4 statt dessen Präzisionsangriffe gegen die Einheiten der 10. NKWD-Division, Feklenkos Männer auf dem Gelände des Traktorenwerks oder Golikows Panzer, die sich bei Tinguta zum Gegenstoß sammelten, geflogen hätte. Denn als die deutschen Bodentruppen am Morgen des 24. August ihren Angriff wiederaufnahmen, stießen sie auf felsenfeste Gegenwehr und ließen sich in ihrer Enttäuschung über die offenbar verpaßte Gelegenheit dazu verleiten, immer mehr Truppen in den Kampf um
Stalingrad zu werfen und die Gefahren, die ihrer Nordflanke am Don drohten, weitgehend zu ignorieren. Zu Besorgnis bestand vorläufig noch kein Anlaß, denn am 23. August hatten Hubes Einheiten ihre ursprünglichen Angriffsziele erreicht: Sie hatten die Landbrücke zwischen Don und Wolga überquert und Stellungen erreicht, von denen aus Stalingrad und die Wolga im Wirkungsbereich ihrer schweren Waffen lagen. Außerdem hatten sie einen Keil in die Stalingrad-Front getrieben und die Bahnstrecken unterbrochen, die für die Querverbindungen der Verteidiger fast unerläßlich waren. Aber der deutsche Korridor über die Landbrücke war noch immer ziemlich schmal, und Jeremenko hoffte, ihn unterbrechen zu können, um die Geschlossenheit seiner Front wiederherzustellen.

Als Hube am Morgen des 24. August am Suchaja Metschetka mit Panzern und Infanterie angriff, hielten Feklenkos buntgemischte Verstärkungen - von Gorochows Schützenbrigade bis hin zu Stalingrader Arbeiterbataillonen - sich so gut, daß die Deutschen den ganzen Vormittag lang nicht vorankamen und am Spätnachmittag durch einen Gegenangriff zwei Kilometer weit zurückgedrängt wurden.

Unterdessen galten die meisten deutschen Luftangriffe nicht den sowjetischen Stellungen im entscheidenden Nordabschnitt, sondern dem eigentlichen Stadtgebiet. Das machte Jeremenkos und Chruschtschows Aufgabe nicht leichter, denn sie mußten dafür sorgen, daß Frauen, Kinder und alte Menschen so rasch wie möglich über die Wolga evakuiert wurden. Die Unruhe und Verwirrung bei der Zivilbevölkerung veranlaßten Jeremenko am 25. August, das Kriegsrecht über Stalingrad zu verhängen; aber jede Bombe, die auf die Stadt fiel, konnte nicht auf Feklenkos Truppen nördlich des Traktorenwerks fallen, und seine Männer nutzten diesen Vorteil nach Kräften.

Als der Angriff im Norden liegenblieb, versuchte die sowjetische 6. Armee jetzt, von Westen vorzustoßen. Im Schutz des Morgennebels überquerten am 25. August 25 Panzer und eine Infanteriedivision den Don südlich von Rubeschnoje, um Stalingrad-Mitte anzugreifen. Der Angriff wurde von der 169. Panzerbrigade und der 365. Garde-Schützendivision unter Befehl von Jeremenkos Stellvertreter für die Stalingrad-Front, Generalleutnant Kowalenko, zum Stehen gebracht. Die sowjetische Kampfgruppe stieß dann zu der teilweise eingeschlossenen 87. Schützendivision bei Bolschaja Rossoschka vor und entsetzte sie. Eine Gruppe von 33 Soldaten der 87. Schützendivision - wie so viele der besten sowjetischen Soldaten aus Sibirien und dem Fernen Osten - hatte sich zwei Tage gegen 70 deutsche Panzer gehalten und 27 von ihnen vernichtet - viele davon mit Molotow-Cocktails, die von sowjetischen Autoren (wegen der unerwünschten Erinnerungen an den sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40) prosaisch als „Brandflaschen" bezeichnet wurden. Obwohl die meisten Angehörigen dieser Gruppe keine Kampferfahrung besaßen, wurde lediglich ein Mann verwundet, und obwohl dies keineswegs charakteristisch für sowjetische Operationen war, die wegen der taktisch ungeschickten Führung auf unterer Ebene oft zu unnötig schweren Verlusten führten, war es ein Hinweis, wie der Kampf geführt werden sollte.
« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 12:34 von Adjutant »

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Re: Der Tod einer Stadt
« Antwort #1 am: Do, 26. Juli 2007, 21:11 »
Nachdem die Deutschen vorerst in den Außenbezirken von Stalingrad zum Stehen gebracht worden waren, konzentrierte Jeremenko sich auf den Gegenangriff, den er unbedingt führen wollte. Jeremenko hatte sich vorgenommen, den Korridor des XIV. Panzerkorps zur Wolga abzuschneiden oder das Korps vielleicht sogar zu vernichten, indem er seine Nachschubwege von Norden her mit der 21. Schützenarmee und der l. Garde-Armee angriff (in der UdSSR bezeichnete das vorgesetzte Wort „Garde" eine Formation, die sich im Kampf ausgezeichnet hatte. Sie erhielt bessere Ausrüstung, und ihre Angehörigen bekamen mehr Sold; sie bestand jedoch nicht aus eigens ausgesuchten Soldaten wie die „Garde"Einheiten anderer Streitkräfte).

Schon am 24. August hatten zwei Divisionen der 21. Armee erste Angriffe gegen die deutschen Stellungen bei Serafimowitsch und Kletskaja geführt, während Teile der 1. Garde-Armee bei Nowo-Grigorjewskaja angegriffen hatten; sie hatte ihren Brückenkopf auf dem rechten Donufer ausgeweitet, ohne jedoch Hubes Kampfgruppe abschneiden zu können. Am 25. August traten mehrere Divisionen der 63. Schützenarmee aus dem Raum Jelanskaja-Simowskij zum Angriff an, stießen nach Süden vor und eroberten einen weiteren Brückenkopf jenseits des Dons. General Kowalenkos Kampfgruppe war inzwischen durch zwei weitere Schützendivisionen und einige Panzer verstärkt worden und setzte am 26. August zu einem weiteren Gegenstoß aus dem Raum Samofalowka an, um die Deutschen von einigen beherrschenden Höhen zu vertreiben. Dieser schlecht koordinierte Angriff endete jedoch wegen fehlender Artillerieunterstützung und starker deutscher Luftangriffe mit einem völligen Mißerfolg.

Dann griff General Schtewnow mit Teilen der 62. Armee bei Gorodischtsche und Gumrak an. Dadurch wurde die Gefahr eines deutschen Vorstoßes, der aus Nordwesten nach Stalingrad hätte führen können, vorerst gebannt, aber auch dieser Angriff war nur teilweise erfolgreich, so daß Jeremenko seinen Lieblingsplan eines Angriffs entlang der Nordflanke der 6. Armee wegen unzulänglicher eigener Kräfte aufgeben mußte. Erst nach dem Krieg sollte Jeremenko erfahren, wie nahe er dem Erfolg gewesen war: Der Kommandierende General des XIV. Panzerkorps, General von Wietersheim, war wegen der exponierten Lage von Hubes Abteilung am Wolgaufer, wo sie zeitweise abgeschnitten war und nur aus der Luft versorgt werden konnte, so beunruhigt, daß er um Erlaubnis bat, sie zurückziehen zu dürfen, was ihm Generaloberst von Weichs, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, aber nicht gestattete.

Nun entstand jedoch eine neue Bedrohung im Südabschnitt. Die deutsche 4. Panzerarmee hatte seit dem 19. August versucht, die sowjetische Verteidigungslinie um Stalingrad in der Südecke bei Tundutowo zu durchbrechen. Sie war jedoch kaum vorangekommen und hatte schwere Verluste erlitten - vor allem ihre 24. Panzerdivision -, weil die sowjetischen Stellungen auf den Höhenzügen zwischen Beketowka und Krasnoarmeisk an der Wolga gut angelegt waren und von mehreren Divisionen der 64. Armee mit Panzerunterstützung gehalten wurden. Hoth hatte deshalb die Angriffe eingestellt, und während Jeremenko mit Gegenstößen im Norden und Nordwesten von Stalingrad beschäftigt war, wurden die Panzer und Panzergrenadiere der 4. Panzerarmee unauffällig vom Süden in den Südwesten verlegt und im Raum Abganerowo umgruppiert. Von dort aus traten sie am 29. August bei Tagesanbruch zum Angriff gegen die 126. Schützendivision der 64. Armee an. Hoth wollte einen Keil in die Mitte der 64. Armee treiben und dann hinter den sowjetischen Stellungen zwischen Beketowka und Krasnoarmeisk nach rechts schwenken, um das Wolgaufer und die Höhen südlich von Stalingrad zu gewinnen und den linken Flügel der 64. Armee abzuschneiden.

Der deutsche Angriff kam jedoch besser als erwartet voran. General von Hauenschilds 24. Panzerdivision durchbrach die sowjetische Front bei Gawrilowka mit wirkungsvoller Unterstützung der Stukas der Luftflotte 4 und stieß in den Rücken der 62. und 64. Armee vor. Dadurch änderte sich die Lage schlagartig. Aus dem Versuch, den linken Flügel der 64. Armee abzuschneiden, hatte sich die Möglichkeit entwickelt, den rechten Flügel der 64. Armee und vielleicht die gesamte 62. Armee einzukesseln. Dazu mußte die deutsche 4. Panzerarmee auf die vorgesehene Schwenkung verzichten und weiter nach Norden vorstoßen, während die 6. Armee ihr nach Süden entgegenkommen mußte. Wenn dieses Manöver gelang, war der Fall Stalingrads unvermeidlich, weil keine Truppen mehr zur Verteidigung der Stadt zur Verfügung standen. Aber die Heeresgruppe B würde rasch handeln müssen, denn Jeremenko erkannte diese Gefahr ebenfalls.

Generaloberst von Weichs, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, reagierte schnell auf die veränderte Lage: Am 30. August mittags ließ er der 6. Armee einen Befehl übermitteln, in dem es hieß, jetzt hänge alles davon ab, daß die 6. Armee mit möglichst starken Kräften in südöstlicher Richtung angreife, um die westlich von Stalingrad stehenden feindlichen Kräfte im Zusammenwirken mit der 4. Panzerarmee zu vernichten. Am nächsten Tag drängte Weichs erneut auf eine rasche Vereinigung der beiden Angriffsspitzen, der ein Vorstoß ins Herz der Stadt folgen müsse.

Aber Paulus war nicht von der Stelle zu bringen. Obwohl Jeremenkos Gegenangriffe hinter den Erwartungen des sowjetischen Oberbefehlshabers zurückgeblieben waren, hatten sie Wietersheim und Paulus davon überzeugt, daß ihre Nordflanke sich in sehr prekärer Lage befinde. Die russischen Gegenangriffe hielten an, und Paulus befürchtete einen Zusammenbruch seiner Nordfront, wenn er seine schnellen Kräfte für einen Vorstoß nach Süden abstellte. Der sowjetische Drijck gegen die 6. Armee ließ erst am 2. September nach; daraufhin schickte Paulus seine Panzer sofort Hoth entgegen. Am 3. September hatte auch Seydlitz' Infanterie Verbindung mit den Angriffsspitzen der 4. Panzerarmee, womit der Einschließungsring geschlossen war. Aber der Umfassungsangriff hatte einen Schönheitsfehler: Die Rote Armee war erneut aus der Umklammerung entkommen. Was war passiert?

Jeremenko hatte nicht erkannt, daß Hoth die Absicht hatte, den linken Flügel der 64. Armee abzuschneiden, und die deutschen Absichten erraten, bevor die Deutsehen sich selbst zur Änderung des Angriffsziels entschlossen. Als Weichs und Hoth ihren unerwarteten Erfolg ausnützten und weiter nach Norden vorstießen, war aus dem Hauptquartier der Stalingrad-Front bereits ein Strom von Befehlen hinausgegangen, die auf eine Räumung des äußeren Verteidigungsringes um Stalingrad hinausliefen. Der rechte Flügel der 64. Armee wurde in der Nacht zum 30. August zurückgenommen und besetzte hauptsächlich den mittleren Verteidigungsring, während die 29. und 204. Schützendivision in die Armeereserve überwiesen wurden. Die 62. Armee begann ihren Rückzug in der nächsten Nacht und bezog Stellungen in der mittleren Verteidigungszone nördlich der 64. Armee. Dieser notwendig gewordene Rückzug bedeutete allerdings, daß Stalingrad nun auf allen Seiten von den Deutschen hart bedrängt wurde.

Durch eine seltsame Kombination aus voreiligem Optimismus und fast hellseherischen Fähigkeiten war es Jeremenko jedoch gelungen, die Masse seiner Kräfte zu retten. Seine Gegenangriffe waren fehlgeschlagen, aber sie hatten einen wichtigen Zweck erfüllt: Sie hatten Paulus' 6. Armee in den entscheidenden Tagen vom 30. August bis zum 2. September festgenagelt. Jeremenko hatte die deutschen Absichten ursprünglich falsch beurteilt, aber er hatte die Möglichkeiten, die sich dem Gegner boten, rascher erkannt als die Deutschen, so daß seine 62. und 64. Armee weiterkämpfen konnten. Aber wie lange noch?

Diesmal waren sie nur mit knapper Not der Vernichtung entgangen, und der verstärkte deutsche Druck im Südabschnitt erzwang am 2. September den Rückzug auf die innere Verteidigungslinie. Dabei setzten die Deutschen erstmals Sturmgeschütze ein. Obwohl Jeremenko behauptete, die erhofften Ergebnisse seien ausgeblieben, forderte er sofort selbst welche an. Er machte sich offenbar Sorgen wegen der Wirkung dieser Waffen auf seine Truppen, die noch nie Sturmgeschütze gesehen hatten und deren Bewegungsraum von Tag zu Tag mehr eingeengt wurde.

Stalingrad bot jetzt ein grausiges Bild der Zerstörung. Die Stadt war seit dem 23. August täglich bombardiert worden, und die Luftangriffe am 2. September waren besonders schwer gewesen, so daß eine kilometerweit sichtbare Rauchwolke über Stalingrad stand.

Aus militärischer Sicht noch schlimmer war jedoch die Tatsache, daß die Wolgafähren, die allen Nachschub herantransportieren mußten, ständig bombardiert und von Artillerie beschossen wurden. Nachts schossen die Deutschen Leuchtgranaten und erschwerten den Fährverkehr, der ohnehin fast nur mehr nachts abgewickelt werden konnte, durch Artilleriefeuer zusätzlich. Irgendwie gelang es trotzdem, Munition, Verpflegung und Truppen in die belagerte Stadt zu schaffen, wo sie dringend benötigt wurden: Die 62. und 64. Schützenarmee befanden sich seit Mitte Juli fast ununterbrochen im Einsatz und mußten Anfang September dringend aufgefrischt werden. Außerdem stand jetzt das nächste Stadium der Schlacht - der Kampf auf der inneren Linie - bevor.

Quelle-Stalingrad (G. Jukes) 1968

Gruß
Josef
« Letzte Änderung: So, 04. Juli 2010, 12:33 von Adjutant »

 


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