Autor Thema: Danziger Bucht 1945  (Gelesen 1498 mal)

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Offline zirkulon

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Danziger Bucht 1945
« am: Do, 17. Januar 2008, 12:54 »
Titel: Danziger Bucht 1945
Herausgeber: Egbert Kieser
Verlag: Bechtle München, Bertelsmann Gütersloh
Erscheinungsdatum: ca. 1978
Seitenzahl: 320
ISBN: nicht vorhanden
Sonstiges:

Auszug aus dem Buch:

Das Debakel der 2. deutschen Armee war vollkommen gewesen. Die Stoßarmeen Marschall Rokossowskis strömten durch Nordpolen, parallel zur Südgrenze Ostpreußens, ohne noch auf ernstlichen Widerstand zu stoßen. Am 18. Januar, vier Tage nach Beginn ihrer Offensive, besetzten sie das Hauptquartier des 2. AOK, aus denen sich Generaloberst Weiß und sein Stab rechtzeitig abgesetzt hatten. Am selben Tag nahmen sie den Truppenübungsplatz Milau. Der Kommandant, Generalsmajor Sauvant, hatte sich nur Stunden vorher mit fünf Panzern und einer Bäckereinheit in Richtung Marienburg zurückziehen können.

Teile der 2. sowjetischen Gardearmee und die 48. Armee bogen nun nach Norden ab: im Rücken der 4. deutschen Armee sollten Sie das Frische Haft erreichen und damit Ostpreußen vom Westen abschneiden.

Noch vor Anbruch des 19. Januar hatten die russischen Elitetruppen jubelnd die deutsche Grenze überschritten. Sie saßen auf Panzern, Sturmgeschützen und voll gepackten Lastwagen - mit grau-braunen Uniformen, wattierten Jacken und darüber die grauen Pelzmützen mit dem kleinen roten Stern, nicht viel größer als ein Parteiabzeichen. Zu Tausenden liefen sie in Schützenreihen über die verschneiten Felder und brachen in die Dörfer und Städte ein. Sie schossen auf alles, was sich bewegte.

Auf dem 2300 Morgen großen Gut Seythen im Kreis Osterode, etwa 20 km nördlich der Grenze nach Polen, ging dieser Donnerstag, der 18. Januar, zur Neige wie all die anderen arbeitsreichen Tage zuvor auch. Die 35 russischen und die 14 französischen Kriegsgefangenen waren in dem vergitterten alten Pferdestall für die Nacht eingeschlossen. In der hinteren Scheune ratterte eine Häckselmaschine, und in den Kuhställen klapperten die Schweizer mit den Milchkannen. Inspektor Romalm machte noch einen Rundgang. Die Frau des zur Wehrmacht eingezogenen Besitzers, Frau v. W., war schon zur Ruhe gegangen. Romalm hatte von Partisanen gehört und wollte sich vergewissern, dass alles verschlossen war. Bevor er zu Bett ging, saß er noch eine Stunde in seinem Büro und teilte die Arbeiten für den nächsten Tag ein.

Gegen 2:00 Uhr morgens preschte ein dick vermummter, schneeverkrusteter Motorradfahrer die Anhöhe zum Gutshaus hinauf. Er hielt vor der Wohnung des Inspektors und hämmerte mit der Faust an die Tür. Romalm nahm sich nicht die Zeit, die Verdunkelung am Fenster hoch zu rollen. Er zog einen Mantel über den Schlafanzug und lief über den kalten Flur die Treppe hinunter.

"Der Ortsgruppenleiter schickt mich" meldete der Motorradfahrer. "Ihre Volkssturmeinheit soll sofort die Stellungen in Osterschau beziehen! "

"Sofort? "Fragte Romalm ungläubig zurück. "Warum denn - was ist denn los? "

" Das weiß ich auch nicht. Sie sollen jedenfalls da raus. Die Russen sind nicht mehr weit. " Der Mann gab Gas und schlidderte über die vereiste Straße davon.

Wieder in seinem Zimmer, rauchte Romalm erst einmal eine Zigarette. Das konnte doch nicht ernst sein. Die Front war irgendwo weit im Südosten. Vor zwei Tagen hatte der Wehrmachtsbericht noch von Kämpfen am Narew gesprochen. Wahrscheinlich wollte die Partei nur wieder zeigen, dass sie auch auch Krieg spielen kann, und das Ganze war eine Übung. Er würde sich beschweren, schließlich mussten die Leute tagsüber hart arbeiten. Vom Nachtwächter ließ er die alten Männer und die Pimpfe zusammentrommeln. Eine halbe Stunde später war der Zug von 20 Mann missmutig und verschlafen zu den 5 km entfernten Stellungen unterwegs, die sie selbst erst vor wenigen Wochen ausgehoben hatten. Der Inspektor blieb zurück. Er konnte den Nachtwächter nicht mit den vielen Kriegsgefangenen allein lassen. Unruhig ging er noch einmal die Gebäude ab. Der Wind hatte sich seit dem Abend gedreht, und ganz schwach glaubte er jetzt im Süden ein Donnern zu vernehmen. Mit dem Fernglas um den Hals stieg er in das Turmzimmer und suchte den Südhorizont ab. Kein Zweifel: dort lag ein breiter, roter Feuerstreifen.

Romalm war noch immer nicht beunruhigt. Vielleicht waren es nur Partisanenverbände. Die Entfernung war schwer zu schätzen. Aber wie weit es auch war, dazwischen lagen noch die Hohenstein Stellungen und Tannenberg.

Gegen 3:00 Uhr war der Melder wieder da. Die Gutsleute sollten sich für den Treck fertig machen. Packbefehl hieß das. Niemand durfte abrücken, bevor der Ortsgruppenleiter den Räumbefehl gegeben hatte. Romalm wartete den Tagesanbruch ab, ehe er sich daran machte, den Treck zusammenzustellen. Je zwei Familien kamen auf einen mit zwei schweren oder drei leichten Pferden bespannten Wagen. Die Gutsherrin mit ihren beiden Kindern bekam einen gummibereiften Tafelwagen, der Inspektor hatte einen kleinen Einspänner mit einem sehr jungen Pferd. Sein Reitpferd wollte er, um beweglicher zu sein, gesattelt an den Wagen binden.

Die russischen Kriegsgefangenen wurden mit zwei Wachleuten nach Hohenstein zu einer Sammelstelle der Wehrmacht in Marsch gesetzt, die Franzosen als Kutscher auf die Wagen verteilt. Am frühen Morgen kamen auch die Volkssturmmänner wieder zurück - man hatte keine Waffen für sie auftreiben können und sie heimgeschickt.

Beim Packen gab es hässliche Szenen. Die Leute stritten darum, wer was mitnehmen durfte, wer mit wem fahren sollte. Es gab Tränen und Flüche, und noch immer wusste keiner genau zu sagen, warum man so plötzlich aufbrechen sollte. Mitten in diese Aufregung hinein tauchten sechs russische Tiefflieger auf. In zwei Anflügen schossen sie mehrere Maschinengewehrgarben in die Häuser. Niemand wurde verletzt. Die Hälfte der Leute war in die Keller gestürzt und wollte nun nicht mehr heraus.

Die sechs sowjetischen Maschinen flogen nach Nordosten ab. In etwa 10 km Entfernung, im abseits gelegenen Schwirgstein, fütterte die Bäuerin Christa Dux gerade die Schweine, als sie das Motorengeräusch und das Tacken der MG hörte. Erschrocken lief sie auf den Hof hinaus und sah, wie die Maschinen über ihrem Dorf kurvten und in Richtung Waplitz schossen, wo die Schwirgsteiner noch vor ein paar Tagen den Schnee aus den Panzergräben geschaufelt hatten. In dieser Richtung lag aber auch die Schule, in der ihre beiden Kinder gerade beim Unterricht saßen.

Christa Dux rannte los, so schnell sie konnte. Andere Frauen liefen ihr nach. Mehrmals stürzte sie auf der eisglatten Dorfstraße, lief am Teich vorbei durch den großen Schulgarten und fand ihre Kinder unversehrt in einer Ecke des Klassenzimmers an der Wand hockend. Die junge Lehrerin saß mitten unter den Kindern und weinte, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Den Schwirgsteinern geschah nichts.

Die Aufregung hatte sich noch nicht gelegt, als zwei Lkw mit deutschen Soldaten im Dorf hielten. Einige von ihnen waren verwundet, und alle sahen sehr mitgenommen aus. Sie baten um Lebensmittel und erzählten den Dörflern, dass die Russen hinter ihnen her seien. Der ganze südlich gelegene Grenzkreis Neidenburg sei auf der Flucht in Richtung Allenstein und Osterode. Die Straßen seien alle restlos verstopft.

Niemand wollte diese Geschichte glauben. Die Soldaten sahen nicht sehr vertrauenerweckend aus. Der stellvertretende Bürgermeister rief bei der Kreisbauernschaft in Osterode an. Dort wusste man nichts von einem Räumbefehl. Und so warteten auch sie, wie die Leute von Seythen, bis zum Sonnabend.

In der Nacht zum Sonnabend hatte es wieder geschneit. Unter der 20 cm dicken Schneedecke verbarg sich Glatteis. Die Temperatur betrug 18° minus. Am Morgen war die Wolkendecke aufgerissen, und hin und wieder schien die Sonne über die friedliche Winterlandschaft. Auch auf dem Gut Steffenswalde hatte man den Packbefehl erhalten. Die Gutsherrin Ella Brümmer war deshalb an diesem Morgen nach Osterode unterwegs, um Einkäufe für den Treck zu machen: Schuhe für die Kutscher, Stollen für die Pferde und Kleinigkeiten nach einer langen Liste, die für eine so ungewöhnliche Reise nötig erschienen. Ella Brümmer fuhr ihren Einspänner ohne Kutscher. Die Straße war sehr belebt. Sie überholte einige Flüchtlingstrecks, wurde selber von Militärlastwagen überholt, die es offenbar besonders eilig hatten. Hinter Döhringen tauchten russische Flieger über der Straße auf und schossen was das Zeug hielt. Pferde gehen durch, Deichsel bechen, Frauen schreien auf - aber niemand wird verletzt. Ella Brümmer ist einen Moment unschlüssig, soll sie einfach umkehren? Doch dann fährt sie weiter.

Dieser Entschluss sollte sie über 12 Stunden kosten. 10 davon hätten genügt, sie und ihren Gutstreck vor den Russen in Sicherheit zu bringen.

Sie hatte Mühe, bis nach Osterode durchzukommen. In der Stadt selbst waren alle Straßen mit Fuhrwerken und Militärfahrzeugen verstopft. An den Läden hingen weiße Zettel mit der Aufschrift:" Polizeilich geschlossen". Sie ging zum Landratsamt und hörte, wie der Chefarzt des Krankenhauses zum Landrat sagte: "Du musst anordnen, dass die Leute nicht mehr fliehen sollen. Der Russe ist bei Gilgenburg (etwa 40 km südlich) zurückgeschlagen, und man kann ruhig den nächsten Tag abwarten. Wenn die Leute weiter so fliehen, bekomme ich meine Kranken nicht mehr auf den Bahnhof. Die Lage dort ist unvorstellbar! " Frau Brümmer drängte sich dazwischen und fragte den Landrat:" Sollen wir fliehen oder nicht? " Er sah sie nur kurz an und sagte:" Seit 12:30 Uhr sind Autos in ihrer Richtung mit dem Fluchtbefehl unterwegs." Als die Gutsherrin den Rückweg antrat, riefen sich die Leute auf der Straße schon zu: " Nicht weiter! Alles zurück in die Häuser! Der Russe ist bei Gilgenburg zurückgeschlagen! " Einige Gilgenburger kehrten daraufhin tatsächlich wieder um und liefen geradewegs in ihr Verderben. Ella Brümmer schlug auf ihre Pferde ein. Jetzt hatte auch Sie es eilig.

Um diese Zeit stand der Gutstreck Seythen mit Romalm schon drei Stunden abmarschbereit auf dem großen Hof zwischen den Scheunen. Zehn Wagen waren gepackt, die Pferde angespannt, die Leute wärmten sich in den Gesindestuben - aber noch immer kam kein Räumbefehl. Alle 10 Minuten versuchte Inspektor Romalm den Ortsgruppenleiter anzurufen. Niemand meldete sich. Gegen Mittag schickte er endlich einen Reiter nach Osterschau, um zu erfahren, was da los war. Nach einer guten halben Stunde war der Mann zurück: Der Herr Ortsgruppenleiter hatte am Morgen seine Frau und Kinder zur Bahn gebracht und war mit dem Zug - es war der letzte aus Osterschau  - gleich selber mitgefahren.

Wütend trieb Inspektor Romalm die Gutsleute zur Eile. Eine halbe Stunde später setzte sich der Treck in Bewegung. Romalm hatte Seitenstraßen für den Weg nach Osterode gewählt, weil er schon von Weitem gesehen hatte, dass die Hauptstraße hoffnungslos verstopft war. Aber es war für die Pferde schwer, in dem hügeligen Gelände die vollgepackten Wagen die vereisten Berge hinaufzuziehen. Immer wieder mussten Pferde vorgespannt werden, um überhaupt voranzukommen.

Im letzten Tageslicht ließ Romalm halten und mit einigen Helfern alles überflüssige Gerät - Nähmaschinen, Möbelstücke, Brikettsäcke - von den Wagen werfen. Es gab ein schreckliches Gezeter, und nur die Drohung, die Unwilligen zurückzulassen, führte zum Ziel. Danach kamen sie schneller voran. Romalm wollte ohne weiteren Halt am Sonntag Vormittag auf der Höhe von Osterode sein.

Um diese Zeit riß auch den Schwirgsteinern die Geduld. Am Samstag nachmittag gegen 17:30 Uhr brachen sie auf. Als erste verließ Christa Dux ihr Gehöft, nachdem sie noch einmal die Tiere gefüttert und alle Fenster und Türen geschlossen hatte. Den großen Planwagen kutschierte ihr alter Vater. Christa Dux saß mit ihrer Mutter und den beiden Kindern auf dem Bettzeug hinter dem Kutschbock. Sie hatten etwa 1500 Meter bis zur Hauptstraße, wo sie lange warten mussten, bis sie sich in den Strom der vorbeirollenden Trecks einordnen konnten. Militärlastwagen schoben sich zwischen die Treckwagen - sie alle kamen nur im Schritt - Tempo voran......

Gruß
Michael
« Letzte Änderung: Do, 17. Januar 2008, 14:14 von zirkulon »
Bei allen von mir erstellten Beiträgen berufe ich mich auf :
Artikel 5, GG der BRD.
Artikel 11, Charta der Grundrechte der EU.
Artikel 19, Menschenrechtscharta der UN.

Was Du nicht willst dass man Dir tu,
das füg´ auch keinem Andern zu

 


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