Autor Thema: Es waren Erschlagene und erschossene  (Gelesen 120 mal)

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Offline Hubert

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Es waren Erschlagene und erschossene
« am: Fr, 03. April 2015, 11:20 »


Aus der MZ 16.02.2015

Grüße Hubert


„Es waren Erschlagene und Erschossene“

Maria Ziereis aus Thanried schrieb vor gut 30 Jahren ihre Gedanken zu einem KZ-Todesmarsch auf, der 1945 durch ihr Dorf kam.


Thanried.In einem Text aus dem Jahr 1988, der unserem Berichterstatter Jakob Moro zur Veröffentlichung übergeben wurde, berichtet Maria Ziereis: „Es war in einer stockfinsteren Nacht mit Regen und Kälte und Hundegebell, dass man einfach aufwachte. Ich wohnte mit meiner dreijährigen Tochter Christine bei meinen Eltern in Thanried, in einem kleinen Dorf. Mein Mann war seit 1938 bei der Wehrmacht und kam erst 1947 aus russischer Gefangenschaft zurück. Wir waren eine selbstständige Gemeinde mit ungefähr 200 Einwohnern. Mein Vater Georg Dirscherl war Bürgermeister der Gemeinde Hansenried. Unser Dorf bestand aus neun Häusern, alle Bewohner waren Bauern. Ungefähr 200 Meter entfernt führte die Bezirksstraße von Neunburg vorm Wald nach Cham; es war eine ungeteerte Straße.

Es fallen Schüsse

Man hörte immer wieder Schüsse, die man sich nicht erklären konnte. Gegen halb zwei Uhr in der Früh bellten plötzlich die Hunde und man hörte Stimmen. Mein Vater öffnete das Fenster. Vor dem Haus standen Männer und verlangten den Bürgermeister. Es wurde ihm befohlen, für 80 Strafgefangene Quartier zu besorgen. Er wies sie in eine Scheune ein, wo sie sich im Stroh niederlassen konnten. Diese Scheune gehörte dem Bauern Josef Wenzl aus Thanried, der allgemein „Mühlhansl“ genannte wurde. „Mühlhansl“ war um die 50 Jahre alt und von kräftiger Gestalt. Die Gefangenen, bei denen es sich um KZ-Häftlinge handelte, waren ganz durchnässt. Sie verkrochen sich im Stroh. Die SS-Posten bewachten sie mit aufgepflanzten Gewehren. Der Gastgeber gab den Posten Bier und Brot.

Beim Morgengrauen, als es Zeit wurde, das Vieh zu füttern, kamen die Bäuerin und ihre Schwester Anna und leerten den Kartoffeldämpfer, der voll mit Runkelrüben war und im Hofe stand. Da stürzten die Gefangenen aus dem Stroh, um ihren Hunger zu stillen. Die SS-Posten trieben sie mit Hieben zurück. Mutig stellte sich der „Mühlhansl“ ihnen entgegen und setzte sich dafür ein, dass auch die Gefangenen zu essen bekämen. Nach langem Hin und Her gaben die Posten nach. Die Bäuerin und ihre Schwester füllten den Dämpfer mit Kartoffeln und „Mühlhansl“ holte aus der ganzen Nachbarschaft Brot herbei, man buk es ja noch selber. Er selbst ging auf Umwegen über die Weihermühle auf dem Enzenrieder Schulsteig zum Krämer Stockerl nach Friedersried, um Brot zu holen. Zahlen würde er dafür nicht, denn es gehöre ja für arme, hungrige Leute.

Den Umweg benutzte er, da jeden Augenblick Angehörige der Wehrmacht auftauchen könnten. Seine Hilfsbereitschaft könnte ihm zum Verhängnis werden. Sicher war es auch ein Risiko für die SS-Posten, ein Auge zuzudrücken. Viele Dorfbewohner, auch ich war darunter, fanden sich im Hofraum des „Mühlhansl“ ein. Kurz nach 8 Uhr zogen die Häftlinge ab. Sie waren in Sträflingskleidung und viele von ihnen hatten Stofflumpen um die Füße gewickelt und hinkten nach. Es war ein langer Zug. SS-Posten bewachten sie.

Kirchgänger, die in die Frühmesse gingen, berichteten über entsetzliche Dinge. An den Straßenrändern lagen erschossene und erschlagene Männer, so dass einige wieder umkehrten und sich gar nicht mehr aus ihren Häusern trauten. Einige Kirchgänger berichteten, dass Männer, die sie für tot gehalten hatten, sich dann noch einige Meter weit fortbewegt hatten. Etwa hundert Tote fand man im Lauf des Tages an der Straße von Neunburg vorm Wald nach Stamsried. Auch auf anderen Straßen in unserer Gegend bot sich das gleiche Bild, man redete nur mehr über die Toten. Die alten Männer, die noch daheim waren, wurden alle zum Volkssturm beordert und sie mussten diese Toten rasch und notdürftig, abseits der Straße, bestatten.

Unser Gemeindegebiet umfasste etwa drei bis vier Kilometer der Straße entlang. Die Toten wurden auf einen Pferdewagen geworfen. In einem Gemeindewald „In der Hoi“ wurde ein tiefes längliches Loch ausgeschaufelt, da hinein wurden die Toten geworfen, einer auf den anderen. Schwerer Lehmboden bedeckte sie. Immer wenn ich dort vorbeikam, schauderte mich und ich betete ein Vaterunser.

Die US-Panzer kommen

Am Montag, den 23. April 1945, hörten wir in den frühen Morgenstunden ein dumpfes Dröhnen. Wir rätselten, was das zu bedeuten habe. Da rief unser polnischer Kriegsgefangener Watek voller Freude, dass es sich um Panzer handelte. Er hatte von Georg Ruider, der den Schwarzhörer angedreht hatte, erfahren, dass die amerikanischen Panzer auf dem Vormarsch seien.

Da hängte mein Vater schnell ein Leintuch heraus. Im gleichen Moment eilten der damalige Bürgermeister der Gemeinde Friedersried, Max Gebhard, mit Ingenieur Greger von den Messerschmittwerken Regensburg, der sich zufällig bei seiner Familie in Friedersried aufhielt, zu uns und nahmen meinen Vater mit zu den Amis.

Bei Johann Schlecht mussten alle die Stube verlassen und dort erfolgte dann die schriftliche Übergabe, bei welcher der Ingenieur Greger den Dolmetscher machte. An und für sich waren wir ja in dieser Hinsicht ein unbedeutendes Dorf, aber niemand wusste, ob sich nicht auch in unseren Scheunen SS-Männer versteckt hätten. Auch bei uns war einer im Keller, der war uns einfach nachgelaufen und war bereits in Zivil, er wurde vor unseren Augen gefangen genommen. Wir kamen mit diesem fremden Mann überhaupt nicht ins Gespräch.

In den nächsten Tagen kam dann täglich zum Bürgermeister ein Kurier und brachte Formulare, die man ausfüllen musste. Man musste angeben, wie viele Männer, Frauen und Kinder da waren, wie viele Ausländer, die als Gefangene gearbeitet hatten. Überwiegend waren in unserer Gemeinde polnische Kriegsgefangene, aber auch aus Weißrussland, die als Landarbeiter eingesetzt waren. In dieser Zeit kamen auch schon viele Flüchtlinge in unsere Gemeinde. Auch die wurden erfasst. Weiter, was an Lebensmitteln vorhanden war und ob die Versorgung ausreichte. Amtliche Post wurde mitgenommen und auch gebracht.

101 Tote umgebettet

Am Sonntag, 29. April 1945, kam von der Militärregierung der Befehl, dass alle Toten aus den Konzentrationslagern, die auf dem Marsch durch Neukirchen-Balbini und Umgebung den Tod gefunden hatten und in Massengräbern oder auch an der Sterbestelle begraben worden waren, wieder ausgegraben werden mussten.

Zu dieser Zeit gehörten wir noch zum Landkreis Neunburg vorm Wald. Sie sollten auf dem Friedhof oder einem anderen geeigneten Ort bestattet werden. Nun wurde neben dem Poststadel ein Grundstück in Neukirchen-Balbini gewählt. Dort wurde in Gemeinschaftsarbeit ein Grab ausgehoben, das zwölf mal 14 Meter groß war. In unserem Gemeindegebiet Hansenried waren es zwischen zehn und 13 Tote, so genau weiß ich die Anzahl nicht mehr.

Der Schreiner August Bucher von Neukirchen-Balbini wurde beauftragt, über 100 Särge anzufertigen, es mussten ja auch die Toten aus den Nachbargemeinden bestattet werden. Diese Toten mussten alle ausgegraben, gewaschen und gereinigt werden. Dazu wurden Mitglieder der NSDAP und der NS-Frauenschaft herangezogen. Die Toten mussten auch nach Erkennungsmarken durchsucht werden und nach sonstigen Merkmalen, das heißt, sie mussten auch umgedreht werden. Es waren Erschlagene, Erschossene, blutige Leichen, eine schreckliche Arbeit, denn die Leichen waren bereits vor acht Tagen begraben worden. Es war sehr kalt, das war noch ein Glück, es hatte auch ausgiebig geschneit. Die Militärregierung befahl, dass alle Särge offen bleiben sollten: Die Toten wurden fotografiert.

Am 3. Mai 1945 fand die Massenbeerdigung statt. Wir wurden über die Gemeinde von der Militärregierung aufgefordert, die Toten zu Grabe zu tragen. So weit ich mich erinnern kann, wurden alle Leute zwischen 18 und 55 Jahren namentlich aufgefordert, sich zu melden. Man hatte mit hohen Strafen zu rechnen, wenn man fern blieb. Krankheit oder Schwangerschaft musste mit einem Attest belegt werden. Die Särge hatten keine Griffe, es wurden nur vier Stöcke unter die Särge gelegt, man kann sie mit einem Gabelstiel vergleichen. Ich war mit Gerda Hahn, einer Flüchtlingsfrau aus Schlesien, von der noch die Rede sein wird, gute fünf Kilometer nach Neukirchen-Balbini marschiert, um unserer Pflicht nachzukommen. Wir waren beide 24 Jahre alt. Ein grausames Bild bot sich uns, ein Bild des Schreckens, als wir die 101 toten KZler in den Särgen sahen. Einzelne verrichteten noch den letzten Dienst an einigen Toten. Frau Hahn und ich wurden zum Tragen eingeteilt. Jeder Sarg hatte vier Träger, es waren 101 Tote, also wurden 404 Menschen zum Tragen benötigt. Gerda Hahn und ich trugen den Toten mit den Füßen voraus, ich hab’ nimmer umgeschaut, wer die zwei hinteren Träger waren. Behutsam gingen wir Schritt für Schritt.

Die meisten waren Polen

Vor uns wurde ein anderer Toter getragen, der offene Sarg vor uns war ein schrecklicher Anblick, doch wir konzentrierten uns ganz und gar auf unsere Schritte, aus Angst, dass der Sarg, der noch lose auf den Stangen lag, herunterfallen könne. Die Strecke war knapp einen Kilometer lang, am Schluss mussten wir noch eine steile Straße, den Postberg, bewältigen.

Die Toten waren mit Sträflingsanzügen bekleidet. Mancher Frau ist übel geworden, eine Frau brach zusammen und musste weggetragen werden. Ein polnischer Arzt versorgte sie. Ich weiß nicht, ob wir Frauen mittragen mussten, weil wir mit Schuld daran waren, dass wir Konzentrationslager nicht verhindert haben, so oder ähnliches hörte man, oder einfach, weil nicht mehr Männer da waren, sie waren ja alle im Krieg. Vom Pfarrer habe ich erfahren, dass es sich bei den KZlern um polnische Staatsangehörige gehandelt hatte. Nur ein einziger Deutscher war dabei, der war Lehrer gewesen.

Um 14 Uhr begann die Zeremonie. An der Spitze des Zuges wurde ein Kreuz getragen, dann kam Herr Pfarrer Maier mit zwei Ministranten. Ihm folgte Bürgermeister Decker mit einem Kranz, so hatte es die Militärregierung vorgeschrieben. Dann folgte der lange Zug. Die ersten waren schon lange am Grab angekommen, als der letzte Sarg noch gar nicht aufgehoben war. Etwa 60 polnische Kriegsgefangene, die jetzt frei waren, umsäumten den Friedhof und waren Zeugen der Beerdigung, auch ehemalige KZler, die überlebt hatten, sowie französische Kriegsgefangene waren dabei.

Der Pfarrer segnete die Toten und betete für sie, dann hielt er eine nachdenkliche Grabpredigt. Es sei nicht seine Aufgabe, so sagte er, eine Anklagerede zu halten gegen die Mörder und ihre Auftraggeber, das würde sicher von anderer Seite geschehen. Er bedauerte, dass gerade unsere Gegend so kurz vor Kriegsende noch mit einer solchen Schandtat besudelt worden sei. Er erinnerte auch daran, dass unter den Unschuldigen viele Priester gewesen waren, auch Bischöfe, neben Opfern, die wegen ihrer Rassenzugehörigkeit ins KZ gekommen waren.

Uns allen stand der Schrecken im Gesicht, wir waren zutiefst erschüttert. Viele Jahre sind inzwischen vergangen, aber vergessen habe ich das alles nicht, ich werde es auch nie vergessen, so lange ich lebe.“

Die Autorin Maria Ziereis (1921-2007) erlebte die Vorgänge am 22. April 1945 in ihrem Geburtsort Thanried und schrieb dies auch nieder. Sie war engagiert im „Treffpunkt Ehrenamt – Zeitzeugen“, einem Projekt im Jahr 2002, und ging in Schulklassen und berichtete. Sie schrieb für die Seniorenzeitschrift „Abseits-Denkste“ mehrere Beiträge. Ihr Vater war Bürgermeister in Hansenried, ihr Ehemann bis zur Eingemeindung nach Stamsried Bürgermeister von Großenzenried.

MORTUI VIVENTES OBLIGANT "Die Toten verpflichten die Lebenden"

 


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